Impressum/Kontakt
Home Laufberichte Lauftagebuch Laufstrecken Tipps&Tools Bücher Links  
 

Am Limit

Berlin-Marathon 2008

Bin ich heute in der Form meines Lebens? Allein die Wucht dieser Frage treibt meinen Puls einen Satz in die Höhe. Aber sie ist berechtigt: In den letzten Wochen habe ich weitaus mehr trainiert, als ich mir und meiner Umwelt noch einmal zumuten möchte. Alles, um einmal die magische Dreistundenmarke zu knacken. Hier und heute, beim Berlin-Marathon 2008 soll es so weit sein.

Die gewaltige Kulisse ist kaum geeignet, meine adrenalingebeizten Nerven zu beruhigen. Soweit das Auge reicht, drängt sich die Läufermasse in den Startblöcken. Knatternd stehen die Hubschrauber mit den Fernsehkameras in der Luft und der Ansager begrüßt den Weltrekordhalter Haile Gebrselassie an der Startlinie. Wie wär's Haile? - Gib mir eine Stunde vor und Du hast eine echte Herausforderung.

Blockbuchstaben
Der Läufer neben mir trägt eine Nummer mit der Startblock-Kennzeichnung E. Wie? Ich sollte doch in Block D stehen! Sein Nebenmann? "E"! Mein Nachbar auf der anderen Seite? Auch "E"! Panik macht sich in mir breit. Wie konnte ich mich nur in den falschen Block stellen? "Oh Mann! Bis Du Dich durch die Massen gekämpft hast, kannst Du die 3 Stunden vergessen!". Mühsam arbeite ich mich Meter um Meter nach vorne, um zu retten, was zu retten ist. Zwei 3:00-Pacer tauchen vor mir auf. Puh, hinter denen zu starten kann nicht wirklich falsch sein. Und nun sehe ich vor mir auch die Grenze zwischen Block C und D, ich bin ja doch richtig! Unglaublich, sonst haben die Ordner gerade hier in Berlin doch immer gut darauf geachtet, dass sich niemand in den falschen Block mogelt.

Endlich der Startschuss. Die ersten Meter laufen noch etwas stockend, aber es wird schnell besser und meine Pacer bleiben in Sichtweite. Kilometer 1 passiere ich nach 4:25, also 10 Sekunden langsamer als der Sollschnitt. Die Pacer ziehen das Tempo an und holen auf den nächsten beiden Kilometern jeweils wieder 5 Sekunden heraus, jetzt liegen wir genau im Plan.

Planspiele
Der große Plan: Bisher hatte ich immer zwei alternative Marschtabellen auf mein Uhrenarmband geklebt, diesmal lediglich die eine für 2:59:59. Es gibt heute keinen Plan B, nur das große Ziel. Ein zu großes Ziel? Mein Puls bewegt sich bedrohlich in Regionen, die eher für einen Halbmarathon geeignet sind und das Tempo fühlt sich auch beinahe so an. Die Pacer behalten ihr Tempo bei und ich lasse abreißen. Wenn das überhaupt noch klappen soll, darf ich mich nur haarscharf an der Marschtabelle entlang hangeln. Oh Mann, ich glaube das wird heute nichts.

Dr. Steelhammermann
Immer wieder rufen die Zuschauer uns etwas zu, es klingt wie „Ucki! Ucki!“, was haben die nur? Dann zieht ein Läufer in Boxer-Montur vorbei und mir wird alles klar; die rufen „Rocky! Rocky!“. Wahrscheinlich hat der Bursche heute Morgen schon ein paar rohe Eier hinuntergewürgt und Rinderhälften verprügelt. Er trägt sogar Boxhandschuhe, wie macht er das eigentlich an den Getränkestationen?

No Risk – No Run
Das Tempo ist mir weiterhin einen Tick zu hoch für einen Marathon. Normalerweise würde ich mich jetzt etwas zurücknehmen. Aber ich habe mir heute bereits vor dem Start vorgenommen, auch in diesem Fall das Tempo zu halten und es trotzdem zu versuchen. Ich möchte mich nicht ewig mit der Frage quälen müssen, ob ich nicht doch nur zu vorsichtig war. Wenn ich am Ende eingehen sollte, dann bin ich mir wenigstens sicher, dass ich es wirklich nicht drauf hatte.

Rennmaus
Eine Maus huscht an mir vorbei. Nein, das ist keine dem Endorphin-Delirium entsprungene Wahnvorstellung und sie ist auch nicht weiß, sondern überwiegend schwarz. Es ist offensichtlich die berühmte Minni Maus, also die Verlobte von Micky Maus. Genau genommen ist es ein Läufer offensichtlich asiatischer Herkunft mit schwarzer Strumpf- bzw. Laufhose, einem gepunkteten Röckchen und einem Käppi mit Mäuseöhrchen. Süß!

Kilometer 10 erreiche ich mit 3 Sekunden Verspätung, aber es läuft jetzt etwas besser. Die nächsten 10 Kilometer sind meist meine stärkste Phase. "Auf, es muss klappen, Du hast so viel trainiert!".

Jetzt bin ich richtig im Rollen. Die Zuschauer fliegen vorbei, die Zwischenzeiten passen. "Du machst das, Du kannst das!".

Heillose Hallen
Auch sonst stimmt heute alles. Das Wetter ist gut, die Strecke schnell, das tolle Publikum säumt in Massen die gesamte Strecke und feuert uns an. Ein krasser Kontrast zum Vortag, denn die Marathonmesse mit der Startnummernausgabe war eine einzige Katastrophe. Der neue Standort war nur mit einer einzigen U-Bahn-Linie „erreichbar“, der Shuttlebus blieb im Verkehrschaos stecken und hatte man die Hallen endlich erreicht, ging die Warterei erst richtig los. Statt „Beine hochlegen“ hieß es „Schlange stehen“. Endlose Schlangen an der Startnummernausgabe, an der T-Shirt-Ausgabe, am Troubledesk, vor jedem der viel zu schmalen Hallentore, den Toiletten (im Freien - wie praktisch, wenn es geregnet hätte) und auch vor der Pasta-Ausgabe. Ein paar Leidensgenossen vor mir in der Schlange spielten tatsächlich nebenher auf einem Magnetbrett eine Partie Schach! Ein katastrophaler Rückschlag für die bisher zu Recht viel gerühmte Organisation dieser Veranstaltung.

Auf und nieder, immer wieder
Die Halbmarathonmarke passiere ich nach 1:29:48. Zwölf Sekunden Reserve, nicht einmal ein Sekündchen pro Kilometer. Aber noch halte ich den Plan und jetzt bin ich irgendwie schon auf dem Rückweg.

Es geht nicht, das wird nichts: Schleichend setzt die Müdigkeit ein, knapp zwei Kilometer weiter habe ich bereits wieder einen Teil des dünnen Zeitpolsters verbraucht. Mühsam mache ich etwas mehr Druck. Den nächsten Kilometer schaffe ich wieder in 4:13. "Mensch, es geht doch, Du schaffst das! Lass Dich nicht hängen!".

Kurz darauf hänge ich dann aber doch, und zwar fest. Links ein Rollstuhlfahrer, rechts neben ihm eine dunkelhäutige Gazelle. Beide sind einen Tick langsamer als ich. Das Duo bietet maximales Potenzial, mich mit einem aggressiven Manöver im Teilnehmerfeld und bei den Zuschauern gleichermaßen unbeliebt zu machen. Also bleibt nur der lange Weg außen herum. Es ist nun schwer und jeder zusätzliche Meter kostet wertvolle Kraft, sowohl physisch als auch psychisch. Mein Zeitpolster schmilzt wieder um ein paar Sekunden.

Wilder Eber. Hämmernde Sambatrommeln und Menschenmassen. Nur aus den Augenwinkeln sehe ich ein paar Cheerleader, es ist mühsam, den Blick zu wenden. Mein Blickfeld ist auf drei schmale, blaue Streifen zusammengeschrumpft.

Kilometer 30. Ich liege gerade noch auf der Marschtabelle. Noch 12 Kilometer, aber es ist so schwer, das Tempo zu halten. "Gib alles!".

Tempolacher
Einer der beiden 3:00-Pacer taucht plötzlich wieder vor mir auf. Der ist aber verdammt spät dran und scheint auch zu kämpfen. Dachte, den Job bekommen nur routinierte Läufer, welche die Zielzeit locker drauf haben. Sehr seltsam ...

Einen Kilometer später ist der Kampf endgültig verloren. Auf einen Schlag habe ich 12 Sekunden Rückstand. Gibt das jetzt einen völligen Einbruch? "Mensch, es muss doch noch gehen, Du hast keine Krämpfe, keine wirklichen Schmerzen, lauf zu!".

Lost in Desperation
Ein wenig kann ich das Tempo wieder steigern, aber für jeden Kilometer benötige ich jetzt ein paar Sekunden zu viel. "Lass Dich nicht hängen, laufe trotzdem möglichst schnell! Wenigstens eine gute Zeit, vielleicht noch eine persönliche Bestzeit!". Immerhin ist der Einbruch schleichend, nicht katastrophal. Kilometer für Kilometer hangle ich mich an der Blueline entlang. "Du kommst ins Ziel, und zwar laufend!".

Am Ziel nicht am Ziel
Endlich passiere ich das Brandenburger Tor. Wieder einmal überrascht mich die große Entfernung zum Ziel. Kilometer 42, noch ca. eine Minute bleibt mir für eine neue Bestzeit. Viel Rechnen funktioniert nicht mehr, aber es könnte reichen. "Komm, doch noch ein Endspurt!". Langsam ziehe ich das Tempo an. Die Luft wird knapp. Ich beiße die Zähne zusammen, das wird ein fürchterliches Zielfoto – Egal. Auf den letzten Metern quetsche ich mich an einer kleinen Chilenin vorbei, keine Zeit, den Gentleman zu geben.

3:02:33. Eine neue persönliche Bestzeit, immerhin. Aber es hat nicht gereicht. Gemischte Gefühle. Die verpasste Zielzeit schmerzt mich weniger, als ich erwartet habe. Es war am Ende nicht wirklich knapp und ich hatte beinahe eine Stunde Zeit, mich damit abzufinden. Überschäumende Freude verspüre ich auch nicht, zu viel habe ich für die paar Sekunden Verbesserung investiert. Ob ich es noch einmal versuchen werde? Keine Ahnung.




Links: