Marathon Reloaded: Mein zweiter Marathon
Bonn-Marathon 2005
Bonnerwetter...
... ist das kalt hier! Schnatternd stehe ich zusammen mit Jozsef im Startblock hinter dem 3:30-Pacemaker. Jozsefs S625X-Beschleunigungssensor am Schuh hat bei unserem Herumgehopse vermutlich bereits den ersten Kilometer zusammengezählt. Dafür scheint der Brustgurt seines Pulsmessers zu streiken, denn er kippt sich ständig Wasser auf die Finger und fummelt unter dem Laufshirt herum. Wie soll man bei diesen Temperaturen auch ausreichend Schweiß zusammenbekommen, um die Kontakte mit etwas Flüssigkeit zu versorgen. Meine Flüssigkeitsvorräte habe ich bereits bei mindestens 5 Toilettengängen im Startbereich entsorgt und ebenso oft die Schnürung meiner Schuhe korrigiert. Aber ich bin definitiv ruhiger, als vor einem Jahr in Düsseldorf...
Jozsef kippt inzwischen das Wasser aus seiner Trinkflasche direkt auf das Shirt, aber der Pulser hat sich endgültig zum Streik entschieden.
Jetzt geht's looos
Endlich erfolgt der Start. Noch bevor ich die Startlinie überquert habe, sind sowohl Jozsef als auch der 3:30-Pacemaker verschwunden. Sonst konnte ich immer den Luftballons mit den Zielzeiten in weitem Abstand folgen, hier hält der Pacemaker nur vor dem Start ein Schild hoch und ist später ausschließlich aus nächster Nähe am bedruckten Laufshirt zu erkennen - wie praktisch... Nun ja, muss ich eben gleich mein eigenes Tempo laufen.
Mein Tempo - das heißt heute zunächst einmal irgendetwas zwischen den Marschtabellen für die Endzeiten 3:30 (mein primäres Ziel) und 3:25 (mein Wunschziel). Erschreckend: Das Durchkommen taucht in meiner Prioritätenliste nicht so richtig auf - eine nette Zeit sollte es schon sein. Werner hat mich gewarnt: "Der zweite Marathon ist der gefährlichste!".
Die große Unbekannte bleibt der Wind, welcher zumindest gestern sehr kräftig war und nach den Forumsberichten im letzten Jahr diverse Bestzeitträume hinweggefegt hatte.
Kenn' I' die?
Auf der Kennedy-Brücke kommen uns bereits nach wenigen hundert Metern viele Läufer entgegen. Ich brauche aber keine Ausschau nach bekannten Gesichtern zu halten, es handelt sich um die eine Dreiviertelstunde vorher gestarteten Halbmarathonis und davon kenne ich heute niemanden. Anders sieht die Sache kurz nach Kilometer 4 aus, hier ist eine Wendestelle. Jozsef und Achim habe ich verpasst, aber Bärbel und Sabine kommen mir winkend entgegen. Die beiden scheinen gut drauf zu sein und mir geht es auch gut. Die Zwischenzeiten an den Kilometermarken sind klar schneller als für 3:30 notwendig und die fehlende Zeit zu 3:25 ist mit einem starken Finish noch aufzuholen. Die Beine sind locker und der Puls liegt ebenfalls im "grünen" Bereich.
Beim Rückweg über die Kennedy-Brücke verspüre ich ein leichtes Zwicken in der Leistengegend. Ich schließe im Geist einen Pakt mit meinen Leisten: Sie geben Ruhe und ich nicht unnötig Gas.
Den Rhein entlang kommen wir an einem größeren Gebäude vorbei (Schule?). An den geöffneten Fenstern steht ein Chor und intoniert diverse Popmusik. Die musikalische Darbietung fällt unter die Kategorie "bemüht", aber der gute Wille zählt und ich bin den Sängerinnen ebenso dankbar wie den erstaunlich zahlreichen Zuschauern, welche uns unermüdlich anfeuern. Offensichtlich haben sich doch nicht nur zwangsverpflichtete Familienangehörige an den Straßenrand gestellt, was ihnen bei der Kälte hoch anzurechnen ist. Immerhin regnet es nicht.
Schiffe versägen
Weiter geht es am Rhein entlang und plötzlich bemerke ich ein Schiff, welches neben mir fährt. Ich bin tatsächlich dabei, den Kahn zu überholen. Eigentlich ist das wohl nicht bemerkenswert, aber ich fühle mich dadurch trotzdem ziemlich stark. Jedenfalls wird der Kahn irgendwo zwischen Kilometer 10 und 12 locker abgehängt. Dem hab' ich's aber gegeben!
Kilometer 10 habe ich mit 48:36 passiert und liege bereits klar auf Kurs 3:25. Meine Leisten habe ich schwer über den Tisch gezogen.
Für ein paar Halbmarathonis waren die 45 Minuten Startvorgabe bis zur Trennung der Strecken bei Kilometer 15 nicht ganz ausreichend - jetzt bloß nicht den falschen Vorderleuten hinterherlaufen!
I believe I can fly
In meiner Getränkeflasche an Kilometer 15 ist erstmals eine Portion Maltodextrin und der Kohlenhydratschub scheint mir Flügel zu verleihen. Obwohl sich das Tempo immer noch locker anfühlt und der Pulsmesser friedlich bleibt, werden die Kilometerzeiten schneller. Alles läuft wirklich rund. Da der Wind nur an wenigen, kurzen Abschnitten spürbar ist, bin ich inzwischen sehr optimistisch. Heute geht 'was!
Kilometer 20 erreiche ich in 1:36:32 (0:47:56 für die letzten 10 Kilometer). Das sind bereits ein paar Sekündchen Reserve.
Call me!
Zum ersten Mal trage ich eine Startnummer mit aufgedrucktem Vornamen. Da sich das Feld inzwischen ziemlich auseinander gezogen hat, werden wir von den fabelhaften Zuschauern immer häufiger mit Namen angefeuert. Die "Joachim - Auf geht's"-, "Super Joachim"- und "Eine La Ola für Joachim"-Rufe geben zusätzlichen Schub und verleiten mich zu ungeplanten und unvernünftigen Zwischenspurts. Egal - Was dies der Physis kosten mag, gibt es der Psyche doppelt und dreifach wieder zurück.
Tage des Bonners
In den Wohnsiedlungen ist Party angesagt. An Stehtischen wird der Frühschoppen ins Freie verlegt. Ein paar Kids nutzen die gesperrte Straße für ein Picknick mitten auf einer Verkehrsinsel. Die Straßen sind "Tour de France"-reif mit Anfeuerungen und den Namen der Lokalmatadoren des jeweiligen Viertels beschriftet.
Beim letzten Marathon hatte ich großen Respekt vor dem Abschnitt nach Kilometer 30. Jetzt sehne ich die entscheidenden Kilometer regelrecht herbei. Nach 2:23:19 (0:46:47) geht der Marathon endlich richtig los.
Victory(a)
"Nur noch 10 Kilometer", hat mein Nebenmann schlau errechnet, als wir die 32-Kilometermarke passieren. "Also nur noch ein kleiner Feierabendlauf" gebe ich zurück, und "nach der Viktoriabrücke ballern wir die letzten Körner raus". Er möchte aber nur noch ohne allzu viel Tempoverlust durchkommen und auch sonst finde ich keine Mitstreiter, um auf den letzten Kilometern noch ein Fass aufzumachen. So habe ich ihn längst hinter mir gelassen, als bei Kilometer 36 mit dieser Brücke die letzte, größere Steigung ansteht. Ich nehme mein Tempo etwas zurück, um den braven Beinen nicht noch einen unnötigen Schlag zu verpassen und gebe nach der Brücke wieder Gas.
So langsam dämmert mir, dass sogar die 3:20 in Reichweite liegen könnten. "Gleich bin ich im Ziel" denke ich, obwohl noch eine halbe Stunde zu laufen ist. So ein Marathon verschiebt die Dimensionen.
Gimme 5
Während auf der ersten Hälfte die ausgestreckten Kinderhände reichlich abgeklatscht wurden, ziehen nun die meisten Mitstreiter mit Tunnelblick an den Kleinen vorbei. Dabei verpassen sie wirklich
etwas: Wenn man bereits 20 Meter vorher mit ausgestrecktem Arm heranläuft und möglicherweise noch extra zum Abklatschen die Straßenseite wechselt, erntet man nicht nur ein Paar strahlender Kinderaugen, sondern auch die ungeteilte Aufmerksamkeit und Anfeuerung der umstehenden Erwachsenen.
Mathe: 5
Meine mathematischen Fähigkeiten sind inzwischen mehr als mangelhaft. Die 3:25er Marschtabelle ist überholt und ich bekomme einfach nicht auf die Reihe, wie weit ich neben der 3:20 liege. Lediglich grobe Überschlagsrechnungen mit "brauche etwas weniger als 5 Minuten pro Kilometer" gelingen mir mit einiger Mühe. Es könnte reichen...
Ab Kilometer 40 (3:09:28 / 0:46:09) habe ich endgültig die Jagd auf die 3:20 eröffnet. Die letzte Verpflegungsstelle lasse ich
links liegen. Zum ersten Mal signalisiert die Atmung, dass ich meine Grenzen erreicht habe. Der Gedanke "3:19:xx" hämmert in meinem Kopf. Dazwischen schieben sich Bilder vom Training der letzten Monate. Jetzt kann ich die Früchte ernten. Nein, die habe ich bereits in der Tasche - jetzt kann es eine Fabelzeit werden! Um diese nicht um ein paar Sekunden zu vergeigen, gebe ich alles.
Leider kann ich das Zuschauerspalier vor dem Ziel nicht mehr richtig auskosten. In 4:12 fliege ich über den letzten Kilometer.
Das Herz jagt mit mehr als 170 Schlägen pro Minute pures Adrenalin durch meine Adern.
Die Stunde des Siegers
Wenige Meter vor dem Ziel sehe ich die Anzeige mit der Brutto-Zeit. Jetzt ist mir klar, dass ich es tatsächlich geschafft habe. Jubel bricht aus mir heraus und trägt mich durchs Ziel.
Ich bin außer Atem, als hätte ich gerade einen 10km-Lauf absolviert. Fassungslos starre ich auf meine Uhr, die handgestoppte 3:19:04 anzeigt (offiziell 3:19:01). Nebenan auf der Bühne wird der Sieger des Marathons geehrt. Er hat mir eine gute Stunde abgenommen und steht oben auf dem Treppchen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er glücklicher ist, als ich es gerade bin.
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