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Die Qual (vor) der Wahl

Baden-Marathon Karlsruhe 2009

Startschuss zum Baden-Marathon 2009. Ich stürme los wie ein Verrückter, werde aber trotzdem beinahe überrannt. Bin ich wirklich so langsam? Vereinskollegin Gillian läuft schon 10 Meter vor mir, die wollte doch höchstens mein Tempo laufen! Das erste Kilometerschild, ein Blick auf die Uhr: 4:01, deutlich schneller als meine anvisierten Kilometerzeiten von 4:12-4:15. Das ist mir definitiv zu schnell: Ich bremse herunter und bald darauf hat sich mein Tempo im geplanten Bereich eingependelt.

Nachdem ich vor ein paar Monaten in Düsseldorf endlich die Traummarke von 3 Stunden knacken konnte, habe ich mir diesmal keine feste Zeit vorgenommen. Irgendetwas um die 3 Stunden herum sollte es aber doch werden. Meine Form scheint im Vergleich zu Düsseldorf etwas schwächer zu sein, dafür kann ich heute ohne den Druck der Zeitvorgabe laufen. Diesmal möchte ich mehr nach Gefühl laufen und dieses ist momentan wirklich gut.

Wahlzeit
Die Straßen Karlsruhes sind mit Plakaten freundlich grinsender Damen und Herren aller möglichen und unmöglichen Parteien gepflastert. Konnte man bereits in den vergangenen Jahren ohne Bundestagswahl die Plakate des Baden-Marathons nur mit geübtem Auge entdecken, so gehen diese heute völlig unter.

Die Slogans der Parteien prangen in Riesenlettern wie Waschmittelwerbung von den Plakatwänden (womit nichts gegen Waschmittelwerbung gesagt sein soll). Drei Stunden Zeit, einmal zu sehen, ob die Parolen auch durch einen Marathon helfen können. Die überlebensgroß abgebildete Dame macht jedenfalls einen guten Anfang: "Wir haben die Kraft!". Wirklich passend. Hoffentlich bin ich damit auch gemeint, das wäre heute ziemlich hilfreich.

Inzwischen habe ich mich an den 3:00-Pacer gehängt. Er läuft einen Hauch flotter als notwendig und für mich fühlt sich das Tempo optimal an. Relativ entspannt gehe ich in seiner Gruppe mit, ich glaube, das wird heute eine neue Bestzeit.

Training muss sich wieder lohnen
Weitere Plakate fordern "Arbeit muss sich wieder lohnen" und "Leistung wählen". Durchaus passend. Und überhaupt: Wie wäre es mit einer Senkung des Marathon-Höchstsatzes von 42,195 Kilometern auf, sagen wir mal, 32 Kilometer?

Nach 42:04 sind die ersten 10 Kilometer absolviert. Wieder einmal muss ich an den legendären 3:30-Pacer (kein Tippfehler!) denken, welcher vor zwei Jahren hier an gleicher Stelle die 10 Kilometer sogar nach 40:41 (auch kein Tippfehler!) passierte und seine Schützlinge längst verloren hatte.

Hinter Durlach führt die Strecke durch ein Waldstück. Es ist hier etwas kühler und ich fühle mich gut, könnte sogar einen Tick schneller laufen. Leider habe ich einen taktischen Fehler begangen und die 3-Stunden-Gruppe nicht rechtzeitig überholt. Auf dem engen Waldweg ist ein Überholen praktisch unmöglich, zumal die Plätze neben dem Pacer eifersüchtig verteidigt werden. Der Kerl neben mir hat den Oberkörper eines Kugelstoßers und beharkt in jeder Kurve meine Arme. Ein Ellenbogen meines Vordermanns stampft wie ein Kolben vor meinem Gesicht, direkt daneben baumelt der Luftballon des Pacers herum. Nein, da ist kein Durchkommen, jetzt hilft nur Geduld. "Spar' dir deine Kräfte!".

Zwei endlose Kilometer weiter erreichen wir eine breitere Straße und ich ziehe vorbei. "Das bringt uns nach vorn" bestätigt mir der Herr auf einem Plakat. Ob er das "Unser Land kann mehr" darauf bezogen hat, dass die Phalanx der Kenianer vermutlich schon wieder mit demütigendem Abstand in Führung liegt?

Rad ab
Ein Typ auf einem kleinen Fahrrad überquert unmittelbar vor mir die Straße. Puh, das war knapp! Doch was ist das? Keine Ahnung, ob er den Bordstein getroffen, zu scharf gebremst oder nur den Zuschauern ein Kunststück vorgeführt hat, jedenfalls steigt neben mir plötzlich sein Hinterrad in die Höhe und erwischt meine linke Hand. "ARSCHLOCH!" brülle ich über meine Schulter.

Der eine oder andere Leser dieser Zeilen mag sich nun verwundert die Augen reiben, zumindest wenn ich ihm persönlich bekannt sein sollte. Eilt mir doch nicht gerade der Ruf voraus, den verschwenderischen Umgang mit derlei Kraftausdrücken zu pflegen. Leute - Ich habe mich wochenlang mit großem Aufwand und viel Mühe auf diesen Marathon vorbereitet und dann werde ich von diesem Idioten beinahe aus dem Rennen gekegelt! Da stehe ich auch im Nachhinein voll zu dieser Aussage.

Die Hand schmerzt ein wenig vom Aufprall und ist mit Kettenfett verschmiert. Mal etwas anderes als der übliche Kleister aus Kohlenhydratgel und Mineralgetränk ...

Nicht nur ich lebe gefährlich: Mit einem "Klonck!" kracht zwei Meter neben mir eine Kastanie auf den Asphalt, nicht ohne vorher noch meinen Nebenmann zu erwischen. Mann was für ein gefährlicher Sport!

Good vibrations
Kommt man mit Läufern ins Gespräch über die Karlsruher Halbmarathon- bzw. Marathonstrecke, so ist jedem "diese schwingende Brücke" im Gedächtnis geblieben und genau die haben wir im Stadtteil Rüppur jetzt erreicht. Tatsächlich ist es ein äußerst eigentümliches Gefühl, in einer Gruppe über dieses Bauwerk zu jagen und heute scheint es besonders schlimm zu sein. Es fühlt sich ein wenig wie ein Trainingslauf bei Dunkelheit an, wenn die Beine den Boden Bruchteile von Millimetern früher oder später als erwartet erreichen.

Vereinskollege Georg taucht vor mir auf. Da kann etwas nicht stimmen, der müsste den Halbmarathon viel schneller laufen. "Auf geht’s, Georg", keuche ich ihm zu, aber er winkt ab und schimpft über muskuläre Probleme.

Richtungsentscheidung
Da ist sie wieder, die Karlsruher Marathonweiche. Mir bleibt nun die Wahl: Einmal kann ich dem Pfeil nach rechts folgen, nach ein paar hundert Metern durchs Ziel laufen, offiziell für den Halbmarathon gewertet werden, mit einer Zeit von 1:29 einen Platz unter den vorderen 5-6% belegen, es mir im Verpflegungsbereich "Runners Heaven" gut gehen lassen und gemütlich Duschen gehen. Alternativ kann ich dem anderen Pfeil geradeaus folgen; dann winken mir weitere 21 Kilometer Strecke, eineinhalb Stunden stetig zunehmender Hitze, kraftraubende Schotterwege, giftige Brücken und Anstiege, glibberiger Kohlenhydratkleister als Verpflegung und ein ungewisser Rennausgang. Ich entscheide mich für geradeaus – Läufer haben wirklich einen an der Birne ...

Die Halbmarathonmarke passiere ich nach 1:29:07. Schneller als in Düsseldorf, klar auf Kurs Bestzeit – Perfekt! Die Strecke führt nun wunderschön an der Alb entlang. Leider bestehen einige, malerische Abschnitte aus Schotterwegen und die kosten Kraft. Trotzdem bleibe ich weiterhin im Zeitplan.

So eine Flasche
Kurz bevor ich den nächsten Versorgungsstand erreiche, stellt sich ein Typ direkt vor den Tisch mit der Eigenverpflegung und hält ein Schwätzchen mit den Helfern. "Hey!!!". Mit halber Pirouette und einem herzhaften Bodycheck grabble ich meine Flasche im Laufen hinter ihm hervor und räume dabei beinahe noch ein paar weitere Flaschen ab. Mann – ist das heute ein einziger Hindernislauf?!?

Die nächsten Hindernisse lassen auch nicht lange auf sich warten. Die Kurssetzer haben uns eine ganze Reihe von Fußgängerbrücken in den Weg gestellt und die scheinen von Mal zu Mal noch steiler zu werden. Keine Frage, die zweite Streckenhälfte ist deutlich schwerer als der schnelle Halbmarathonkurs.

Kilometer 27. Auf einen Schlag sind meine letzten beiden Kilometerzeiten erheblich schlechter geworden. Was ist nur los? "Mensch, reiß Dich zusammen, jetzt ist eben der Zeitpunkt zum Kämpfen!". Der nächste Kilometer ist wieder schneller, aber ein Kind am Straßenrand macht mich mit seinem Ausruf "Oh - Luftballons!" reichlich nervös. Schließlich kann das nur eines bedeuten: Die 3-Stunden-Truppe ist hinter mir her!

"Hau 'rein, jetzt gilt es!". Kilometer 29 ist wieder im Soll. Aber die Kraft ist weg, als hätte jemand plötzlich den Stecker gezogen. Ist das jetzt der Mann mit dem Hammer? Nein, davon will ich nichts wissen, dafür sind Zeiten um 4:30 pro Kilometer immer noch zu flott. Aber es ist nun richtig schwer und die Bestzeit kann ich mir abschminken.

Die 3:00-Gruppe zischt an mir vorbei, ich leiste keinerlei Gegenwehr. Kurz darauf fällt der Kugelstoßer aus der Gruppe heraus und ich laufe bald wieder zu ihm auf. Für ein letztes Mal erwarte ich seinen Ellenbogen in der Seite. Jetzt räumt er mir aber höflich die Innenbahn, offenbar ist ihm seine Zeit nun auch egal.

Shootingstar
Seit Kilometern läuft vor mir eine Frau mit gleich zwei Begleiträdern. Das eine scheint ein offizielles Führungsfahrrad zu sein, also liegt die schnelle Dame wohl auf einem der ersten drei Plätze. Vom zweiten Rad bekommt sie regelmäßig Getränke gereicht. Plötzlich knattert ein Motorrad mit einem Fotografen von hinten heran, setzt sich vor die Läuferin und ein Fotoshooting beginnt. Tja, dieses Gefühl werde ich wohl nie selbst erleben. OK - für die starke Leistung hat sie sich das schon verdient. Außerdem kann ich mir gut vorstellen, wie es ihr jetzt gerade geht, denn ihr Tempo lässt in gleichem Maße wie meines nach. Die ist jetzt auch schwer am Beißen.

Volles Rohr
"Aus der Krise hilft nur Grün" ist in großen Lettern zu lesen. Na, da trifft es sich doch prächtig, dass nun der Karlsruher Schlosspark vor uns liegt. Der ist für Spatziergänger tatsächlich ein optisches Highlight, für uns Läufer leider eher ein Labyrinth von Kurven und teilweise geschotterten Wegen. Ein paar Alphornbläser stehen auf der Wiese und intonieren "Rock around the Clock". Cool! Überhaupt ist das Rahmenprogramm am Streckenrand sehenswert. Im Rahmen eines "Tanzmarathons" treten an allen Ecken Tanzgruppen auf, mit einem Repertoire von Square Dance über Bauchtanz bis Hip-Hop.

Der Ordner am Streckenrand schickt einen Radfahrer von der Strecke und muss sich dafür wüst beschimpfen lassen. Mein Held (... also der Ordner natürlich)! Der Mann gehört bei der Siegerehrung ausgezeichnet! Man bräuchte viel mehr Leute von der Sorte, denn leider muss ich feststellen, dass ich keinen Citymarathon kenne, auf dessen Strecke sich so viele Radfahrer, Hundehalter und Sonntagsspaziergänger herumtreiben. Insbesondere die zweite Hälfte ist oft nur halbherzig abgesperrt.

Wechselwähler
Auch die Wechselstelle der Marathonstaffeln hätte eine bessere Absperrung verdient. In Erwartung ihrer Teamkameraden schießen die Teilnehmer aufgeregt durch die Gegend und lassen nur eine schmale Gasse frei.

Die vor mir laufende Frau baut nun stärker ab. Aus den Bemerkungen einiger Zuschauer habe ich erfahren, dass sie wohl auf Platz 2 liegt. Jetzt ziehe ich vorbei, was angesichts ihrer umfangreichen Eskorte nicht ganz einfach ist. Trotzdem "Viel Glück!" und "Halt' durch!".

Rente ab Kilometer 27
Ein paar Plakate protestieren "Gegen Rente ab 67". Recht haben die, ich bin für Rente ab Kilometer 27. Falls ich mir allerdings mein momentan gefühltes Alter anrechnen lassen darf, dann habe ich auch mit der 67 kein Problem.

Vorbei am Marktplatz mit der Pyramide. Ein Zuschauer feuert mich an: "Weiter, Du siehst noch gut aus!". Die offensichtlichste Lüge, seit es Wahlversprechen gibt. Abgesehen davon: Wenn ich austrainiert und in Marathonform bin, sind alle Bekannten der Meinung, ich sähe mager und schlecht aus. Wenn mir also jemand eine Woche vor dem Marathon einen richtigen Schreck einjagen will, so muss er nur behaupten, ich würde gut aussehen.

Noch einmal eine Brücke hinauf, diesmal über den Karlsruher Zoo. Aufwärts geht es noch ganz ordentlich, wenn auch spürbar langsamer. Hinab fehlt mir aber die Kraft, die Schritte sauber durchzuziehen. Mit staksigen Schritten holpere ich hinunter und spüre kurz einen Krampf im Unterschenkel. Oh nein, es sind doch noch drei Kilometer!

Nach ein paar Metern ebener Straße laufen die Beine wieder etwas geschmeidiger aber schon taucht die nächste Unterführung auf. Ich eiere vorsichtig hinunter. Der Muskel, nein die ganze Wade scheint zu flattern. Hinauf machen sich ein paar Kinder den Spaß, unter großem Geschrei neben uns Läufern herzurennen. Besonders unterhaltsam ist das in meinem Zustand nicht, aber wer kann es ihnen verdenken.

Ein Walker kommt selten allein
Ein als Pumuckl verkleideter Teilnehmer biegt vor mir auf die Strecke ein und damit haben 20 Kilometer reichlich einsamer Strecke ein Ende. Seit der Halbmarathonmarke hetzten wir als eine Kette von Autisten im 50-Meter-Abstand durch die Stadt, jetzt teilen wir uns die Strecke für den letzten Kilometer mit den Teilnehmern des Walking-Halbmarathons. Diese zeichnen sich durch mäßiges Tempo und großen Hang zur Geselligkeit aus: Das heißt, ich darf häufig, aber dafür in weitem Bogen überholen.

Entlang an endlosen Absperrungen kurve ich dem Ziel entgegen. Plötzlich ertönt ein vielstimmiges "Joachim! Joachim!". Meine Vereinskollegen von der LG Neckar-Enz sind alle den Halbmarathon gelaufen und feuern mich jetzt an. Ein tolles Willkommen! Jeder von ihnen kann mitfühlen, wie es mir gerade geht.

Endlich spüre ich die Tartanbahn des Beiertheimer Stadions unter meinen Füßen. Noch 250 Meter und ein halbes Dutzend Walker liegen zwischen mir und der Ziellinie. Nun gilt in den Stadien dieser Welt üblicherweise die praktische Konvention, dass gehende und langsam laufende Personen die Innenbahn frei halten sollten. Leider haben die Leute vor mir davon offensichtlich nichts gehört, ebenso wenig wie von meinem gestöhnten "Achtung!". Mir wird klar: Der Weg durch die Zielkurve führt heute nur über Bahn 3.

Ausgeschnapst
Ächzend umrunde ich die letzten beiden Walker, zum Glück kommt es mir heute auf die paar Sekunden auch nicht mehr an. Bei 3:03:33 bleibt meine handgestoppte Zeit stehen, doch die offizielle Zeitnahme korrigiert das auf 3:03:32 und erspart mir damit eine Sekunde sowie das Ausgeben einer Runde Schnaps.

Ich lasse mich auf den Stadionrasen sinken und hadere ein wenig mit dem Ergebnis. Schließlich bin ich hier mit deutlich weniger Aufwand vor zwei Jahren eine halbe Minute schneller gewesen. Aber was soll's eigentlich, diese geniale Laufsaison 2009 mit Traumzeiten von 10 km bis Marathon kann mir das nicht mehr vermiesen.




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