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The Thrill of the Fight

Frankfurt-Marathon 2010

Tuchfühlung
Frankfurt Marathon 2010, ich bekomme kaum noch Luft. Dabei bin ich noch überhaupt nicht am Laufen sondern lediglich in den Startblock eingeklemmt. Das Gedränge ist fürchterlich und immer noch zwängen sich Teilnehmer hinein.

Mein Nebenmann möchte auf dem Asphalt einen kleinen Magneten suchen, aber ein Bücken ist in der Enge beinahe unmöglich. Er hat seine Startnummer mit Magneten befestigt, anstatt die traditionellen Sicherheitsnadeln zu verwenden. Nun bin ich auch kein großer Fan der gefährlichen Piercing-Nummer mit den in der Vorstartaufregung alles Andere als ruhigen Händen, aber diesem neuen Läufer-Gadget habe ich gleich misstraut. Selbst wenn die Teile beim Rennen halten sollten, ein Gedränge wie dieses hier überstehen sie jedenfalls nicht.

Endlich fällt der Startschuss. Jetzt sollte ich mein Tempo finden, aber momentan suche ich nur nach Lücken für die Beine. Mein Tempo, das sind heute 4:12 pro Kilometer für eine Endzeit um 2:57:00. Welcher Teufel hat mich nur geritten? Hatte ich mir nicht vorgenommen, endlich einmal einen Marathon nicht voll am Anschlag zu laufen? So habe ich die letzten Tage wieder einmal damit verbracht, jeden aufkommenden Gedanken an das Tempo und die Distanz schnellstmöglich zu verdrängen: "Du hast sehr gut und reichlich trainiert. Vor 6 Wochen bist du in Karlsruhe eine fantastische Halbmarathonbestzeit gelaufen. Du hast das drauf!".

Die erste Kilometermarke passiere ich in 4:17. Etwas zu langsam, aber schneller komme ich beim besten Willen nicht an meinen Vorderleuten vorbei. Dabei hatte ich mich im vorderen Drittel des ersten Startblocks aufgestellt. Wieder einmal hänge ich hinter einem Lauftreff fest. Sechs Mann mit gleichen Laufshirts, alle fein säuberlich nebeneinander aufgereiht, kein Durchkommen.

In der ersten Kurve wird das Gedränge ganz übel. Mein Nebenmann bekommt einen Tritt in die Hacken, strauchelt, flucht. Eine Trinkflasche schlittert über den Asphalt. Überall nur Beine und Ellenbogen.

Kilometer 5 passiere ich in 21:02. Ein Hauch zu langsam, aber inzwischen kann ich wenigstens einigermaßen frei Laufen. Alles läuft heute irgendwie unrund. Kein Vergleich zu dem Traumlauf vor 6 Wochen.

Spitze Flitze
"What's the pace?" Meine Nachbarin hat beobachtet, wie ich mit der Uhr hantiere. Sie heißt Annica, ist blond, hübsch und sehr, sehr schnell. Ich greife einmal tief in die Klischeekiste und tippe spontan auf Schwedin (was sich später beim Studium der Ergebnislisten aber als Volltreffer herausstellen wird). "Four twelve" gebe ich zurück und frage sie nach Ihrem Plan. Sie möchte eigentlich etwas schneller laufen. Den nächsten Kilometer laufen wir Seite an Seite, dann zieht sie das Tempo an und mir davon.

"Ich dachte die Strecke in Frankfurt soll flach sein" lamentiert mein Nachbar, als wir eine Steigung hinaufkeuchen. Stimmt, genau das habe ich auch gerade gedacht.

Die Wetterbedingungen sind geradezu unverschämt gut. Trotz Sonne ist es angenehm kühl und es weht nur ein leichtes Lüftchen. Gestern Nachmittag hatte ich noch das Schlimmste befürchtet, als ein kräftiger Wind das Herbstlaub über die Plätze fegte. Heute haben weder Läufer noch Zuschauer irgendeinen Grund zur Klage.

Auch jetzt ist das Feld noch sehr dicht und es wird immer wieder einmal richtig eng. Mein Nebenmann zieht regelmäßig zu mir herüber und drängt mich ab. Irgendwann wird mir die Sache zu blöd; ich gehe nicht mehr zur Seite und lasse den Ellenbogen etwas abstehen. Nach 12 Wochen intensiver Marathonvorbereitung besteht dieser nun im Wesentlichen aus sehr schlecht gepolsterten Knochen. Ein letzter Drängler, schon hält der Typ gebührenden Abstand. Geht doch ...

Kilometer 15. Inzwischen läuft es richtig rund. Ich liege exakt im Zeitplan und fühle mich viel besser, als auf den ersten Kilometern. Beine, Puls, Tempo: Alles ist im grünen Bereich. Sogar ein paar Kinderhände kann ich abklatschen. So macht Marathon richtig Spaß!

Unterschwellig
Zwischen dem Auf und Ab der Vorderleute sehe ich ein weißes Schild hindurchscheinen. Die Ankündigung einer Verpflegungsstelle? "Vorsicht Schwelle" – Oh, und da ist sie schon! "Das Schild hätten sie ruhig ein paar Meter vorher aufstellen können!". Dieser Gedanke hallt mir noch im Kopf, da kullert schon mein Nebenmann über den Asphalt und säbelt mir um ein Haar die Beine weg. Puh, das war knapp. Der arme Kerl!

Halbmarathonmarke: 1:28:20. Zehn Sekunden schneller als geplant und rund eine Minute schneller als bei meiner bisherigen Bestzeit. Super, das klappt!

Auf dem letzten Loch ...
... pfeift der Typ am Straßenrand. Kein Grund zur Sorge, es ist ein Musiker mit Querflöte und er rockt das ganze Stadtviertel. Mit vollem Körpereinsatz bearbeitet er sein Instrument; wenn er das durchhält, hat er morgen bestimmt ebenso Muskelkater wie wir.

Aus einem Lautsprecher ertönt "Eye of the Tiger". Der ultimative Marathonsong, wie ich bereits in der Vergangenheit festgestellt habe. Der Refrain liefert die Antwort auf die Frage, warum ich das hier mache: "It's the thrill of the fight". Das ist es: Dem großen Tag entgegenfiebern, der Adrenalin-Kick vor dem Start, der ungewisse Ausgang und der Kampf um ein großes Ziel!

Kleb Dir Eine
Mein Vordermann ist, wie eine ganze Anzahl weiterer Teilnehmer auch, mit den derzeit angesagtesten Klebestreifen seit der Erfindung des Nasenpflasters verziert: Kinesio-Tape. Quietschbunte Pflasterstreifen überziehen Beine und Arme. Mal sieht es großflächig nach martialischem Verband aus, mal aber auch eher als hätte sich der Nachwuchs an Mama oder Papa ausgetobt und mit Kinderpflaster lustige Muster geklebt.

Rockstars
Noch einen weiteren Modetrend kann ich ausmachen: Die Frau von (Runners-)Welt trägt heutzutage Laufrock. Was vor ein paar Jahren noch nach einem verirrten Tenniskleid aussah, ist inzwischen fester Bestandteil der Laufmode geworden. Welch eine schreiende Ungerechtigkeit: Während die typische Läuferinnenfigur in solch einem Kleidungsstück hirnerweichend gut aussieht, stecken wir Männer in diesen unsäglichen Singlets, welche an einer Marathonstatur – vorsichtig ausgedrückt – reichlich unvorteilhaft wirken: Armselige Stofflappen hängen über nicht vorhandenen Schultern und weit klaffende Armlöcher gewähren freizügigen Einblick auf Pulsgurt, hervorstehende Rippen und verpflasterte Brustwarzen. Irgendwann muss die Sportartikelindustrie doch auch einmal uns als Zielgruppe entdecken! Wann gibt es endlich Laufshirts mit Schulterpolster und Brustgurte mit Push-Up-Effekt?

Kilometer 30. Erste Schübe von Müdigkeit ziehen durch Kopf und Beine. Das wird noch ein fürchterlich hartes Stück Arbeit. Jetzt wird es ernst, wir sehen dem Tiger direkt ins Auge.

Angeführt von zwei kräftigen Burschen mit südländischem Teint (welche sich später als Spanier entpuppen werden) hat sich direkt vor mir eine Gruppe aus 6 bis 8 Läufern sowie einer Läuferin formiert. "Dranbleiben! Dranbleiben!" hämmere ich mir wieder und wieder in den Schädel. Die Versuchung, das Tempo zu verschleppen, wird immer größer. "Mensch - es geht doch, Du bist immer noch dabei!".

Nun geht es wieder ins Stadtzentrum. Die Stimmung am Streckenrand ist unglaublich, aber die Umgebung verschwimmt mehr und mehr. Ein undefinierbares Gewimmel und Getöse zieht an mir vorbei. Innerhalb von Minuten fliegt unsere Gruppe auseinander. Der Tiger hat jetzt jeden in seinen Krallen. Lediglich einer der beiden Spanier ist noch übrig. "Dranbleiben!". Wir holpern über ein Gewirr von Straßenbahngleisen. Jetzt nur nicht noch stürzen!

Krampf-Hadern
Die rechte Wade krampft und lässt mich beinahe straucheln. "Oh nein, jetzt geht das wieder los! Und ich habe noch 5 Kilometer bis zum Ziel!". Als sich kurz darauf auch das linke Bein solidarisch erklärt, muss ich etwas Tempo herausnehmen. In immer kürzer werdenden Abständen durchzuckt es die Waden. Ob das bis zum Ziel reicht? "Lauf vorsichtig, flüssig, geschmeidig!" Ich opfere ein paar Sekunden. Die sind nicht mehr wichtig, ich will jetzt nur nicht alles verlieren. Immer wieder engen Kurven, Gift für die Waden.

Ein Gedanke pocht immer wieder im Kopf: "Ich will in diese Halle!". Seit Jahren habe ich die Übertragungen vom Frankfurt-Marathon verfolgt und vom Zieleinlauf geträumt. Seit Monaten dafür trainiert.

Vor mir taucht Annica auf; sichtlich am kämpfen. "Come on, Annica!". Müde lächelt sie zurück, aber ihr Blick sagt, was wir hier wohl alle gerade denken: Ich kann nicht mehr schneller, ich will nur ins Ziel.

Kilometer 40: 2:48:09. Das muss doch unter 3 Stunden reichen. Die Waden ist sind etwas seltener zu spüren. "Weiter, weiter!", ich sehne mich nach dem nächsten Kilometerschild. Darauf wird die 41 stehen, was für eine Aussicht!

Ich treibe durch einen Brei von Stimmen, Trommeln, Köpfen, Absperrgittern und Plakaten. Eine letzte Kurve und der Eingang der Festhalle liegt vor mir. Ich bin da! Plötzliche Dunkelheit - dann gewinnen Scheinwerfer, Musik und Durchsagen die Oberhand. Die große Kuppel, der rote Teppich, der Zielbogen! Jubelnd durchs Ziel, 2:57:21, was für eine Bestzeit!

Ein paar Sekunden Verschnaufen, dann kann ich den großartigen Blick in die Halle richtig genießen. Abklatschen mit Annica, die gerade über die Ziellinie stürmt: "Great race!". Der Hallen-DJ spielt "Jump". Ich könnte an die Decke springen, wenn die Beine nur mitmachen würden. Stattdessen wende ich mich dem Hallenboden zu und sammle ein paar Schnipsel Lametta. Ein kleines Andenken an einen großen Tag.




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