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Unter Strom

Bönnigheimer Stromberglauf 2011

Kaum zu glauben: Wir haben den 19. November und jetzt schwitze ich bereits im Stehen, trotz halblanger Hose und hochgekrempelten Ärmeln. Zum Glück habe ich wenigstens Handschuhe, Stirnband und warme Wintertights im Auto gelassen. Die Herbstsonne lacht und die kuschelige Enge des Startblocks tut ein Übriges. Gleich werden wir die 10 Kilometer des Stromberglaufs in Angriff nehmen.

Treue Leser meiner Laufberichte (doch, die gibt es wirklich ...) reiben sich angesichts dieser Zeilen sicherlich die Hände, jedenfalls sofern sie einen gewissen Hang zu Sadismus oder Schadenfreude pflegen. Schließlich enden Berichte über diese Distanz regelmäßig mit mehr oder weniger detaillierten Schilderungen von Verzweiflung, Atemnot und Laktatgewittern. Irgendwie hasse ich die Sprintdistanz unter den Langstrecken und dieses Gefühl wird auch ganz offensichtlich erwidert. Im Vergleich zu den Zeiten über Halbmarathon und Marathon fallen meine 10km-Ergebnisse jedenfalls deutlich ab.

Auf die Nachfrage von Trainer "Chip" nach meiner Zielzeit habe ich vorhin eine 39:40 angesagt. Die Kalkulation war denkbar einfach: Zunächst einmal habe ich schon vor Wochen den Plan "knapp unter 40 Minuten" angekündigt. Darüber hinaus habe ich mit Dietmar abgemacht, unsere Vereinskollegin Tina zu einer neuen Bestzeit unter 39:45 zu ziehen - sie weiß nur noch nichts von Ihrem "Glück". Auch Elke, Robin und Helmut haben Interesse an einem sub40er-Zug bekundet. Da der ausrichtende Verein zu unserer LG Neckar-Enz gehört, sehe ich ringsum bekannte Gesichter.

Nun klingt meine Zielzeit nicht übermäßig ambitioniert angesichts der Tatsache, dass ich im letzten Jahr einen ganzen Halbmarathon (klingt ein wenig paradox) in ähnlichem Tempo absolviert habe. Aber nach einer langen Verletzungspause bin ich erst jetzt wieder einigermaßen in Fahrt gekommen und mehr als ein Jahr nach meinem letzten Wettkampf beim Frankfurt-Marathon habe ich keine Ahnung, wo ich wirklich stehe.

Der Startschuss kracht und wir suchen zunächst einmal das Heil in der Flucht nach vorn. Der Sprecher hatte kurz vor dem Start von einem neuen Teilnehmerrekord gesprochen und ich möchte uns aus den üblichen Scharmützeln in den ersten Kurven möglichst heraushalten. Nach einem Kilometer hat sich das Feld etwas gelichtet und die Uhr zeigt 3:53; ganz flott, wenn man die leichte Steigung bedenkt.

In den letzten Tagen hat mich Dietmar in die Rolle des Tempomachers gedrängt. Grund dafür sind definitiv weder ein besonders ausgeprägtes Tempogefühl noch eine souveräne Beherrschung der notwendigen Geschwindigkeit. Für den verantwortungsvollen Job qualifiziert mich wohl lediglich eine gewisse Fähigkeit, an den Kilometermarken die Uhr abzulesen und – noch wichtiger – meist auch die daraus notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Was gerade auf den ersten Kilometern durchaus hilfreich sein kann.

Jetzt geht es wieder bergab. Dietmar jagt das leichte Gefälle hinunter und Tina stürmt hinterher. Elke, Robin und die anderen müssen knapp hinter uns sein. "Sachte, wir sind sehr schnell unterwegs", versuche ich zu bremsen, doch Dietmar möchte unbedingt einen Zeitvorsprung für den Rest der Strecke herauslaufen. Das ist nun nicht gerade meine Lieblingstaktik, ich bevorzuge eher ein paar Körner anstatt ein paar Sekunden Reserve. Ich möchte zwar ungern den Spielverderber geben, aber ich lasse mich trotzdem etwas zurückhängen und versuche das Tempo ein wenig zu verschleppen. Mit mäßigem Erfolg, denn auf dem weiterhin abschüssigen Profil bleiben wir auch auf den nächsten beiden Kilometern klar unter der Sollzeit. An Kilometermarke drei steht Chip und ruft uns die Zwischenzeit zu. "Ihr seit – schnell", ruft er uns zu. Täusche ich mich, oder habe ich da eine verdächtige Pause herausgehört? Vermutlich hat er das "zu" gerade noch unterdrückt. Hätte ich nur etwas energischer gebremst (soviel zum Thema Konsequenzen aus Zwischenzeiten ziehen ...).

Jetzt geht es in den Ort hinein und die Stimmung am Streckenrand ist super. Meine Stimmung ist ebenso gut, denn mir ist bereits jetzt klar, dass ich das geplante Tempo gut durchhalten werde. Ich könnte sogar noch locker ein paar Sekunden herauslaufen, aber warum sollte ich? Weder die Bestzeit noch ein nennenswerter Platz in meiner Altersklasse wären in Reichweite, so kann ich aber an mindestens einer Bestzeit ein klein wenig mitarbeiten. Dietmar ist ebenfalls guter Dinge. Er redet viel, kreuzt beinahe tänzelnd hin und her und grüßt Bekannte am Straßenrand. Scheint ein Heimspiel für ihn zu sein.

Auf einmal sind wir deutlich langsamer geworden. Tina atmet schwer und hängt etwas zurück. Eine kurze aber giftige Steigung kostet wertvolle Sekunden. Elke stürmt an uns vorbei. Nach ihren überragenden Leistungen in dieser Saison, gekrönt von WLV-Rekorden und Deutscher Meisterschaft im Marathon, hatte ich ohnehin erwartet, nur am Start kurz einen Kondensstreifen von ihr zu sehen.

"Wir haben eine gute Zeitreserve", versuche ich zu beruhigen. Durch tosende Anfeuerungsrufe passieren wir den Start-/Zielbereich und gehen auf die zweite Runde. Beim Passieren der Zieluhr waren noch nicht einmal die 19:40 erreicht. Hoffentlich klappt das nachher mit der Zeitnahme. Zusammen mit der Startnummer haben wir Papierstreifen mit aufgeklebten Transpondern bekommen, welche an den Schnürsenkeln befestigt werden mussten. "Nicht knicken!" forderte die Gebrauchsanweisung – aber trotzdem einen Knoten darauf zu machen ... Jetzt prangt an jedem Schuh eine breite, leuchtend rote Schleife. Auf den überwiegend in wenig dezenten Farben gestalteten Wettkampfschuhen sieht das irgendwie ein wenig nach Osterhase aus.

"Jetzt fängt der Spaß richtig an", verkündet Dietmar fröhlich. Oh weia, ich glaube, jetzt redet er sich um Kopf und Kragen. Mir macht das heute nichts aus, aber ich kann mich gut in den Rest unserer Gruppe hineinversetzen. Die letzten beiden Kilometer waren bereits schwer, es ist gerade erst die Hälfte absolviert, wir mussten bereits auf ebener Strecke das Tempo reduzieren und haben jetzt einen kraftraubenden Kilometer Anstieg in Aussicht – da kann so ein Spruch schon ein wenig provozieren ...

Ich halte mich verbal lieber zurück und versuche ein Tempo anzuschlagen, welches uns einerseits nicht völlig aus dem Zeitplan wirft, andererseits aber noch mit einigermaßen funktionsfähigen Beinen zum höchsten Punkt der Strecke bringt. Auch wenn der Kurs später wieder leichter wird, brauchen wir noch viel Power für das letzte Drittel. Am Ende des sechsten Kilometers haben wir dreizehn Sekunden unserer Zeitreserve geopfert – hoffentlich eine solide Investition in unser Restprogramm.

Was für ein Lauf: Das Wetter ist genial, für diese Jahreszeit geradezu unverschämt gut. Der schwerste Teil ist absolviert und meine Beine fühlen sich richtig gut an. Das Tempo macht Spaß und durch den Job des Tempomachers stehe ich voll unter Strom. Auch der nächste Kilometer ist trotz beginnenden Gefälles zu langsam. Jetzt wird es wirklich ernst, unser Unternehmen sub40 steht auf des Messers Schneide. Zuckerbrot oder Peitsche, was wird besser wirken? Ich entscheide mich für die sachliche Ansage: "Jetzt müssen wird es aber laufen lassen" und drücke aufs Tempo.

Unter gnädiger Mithilfe der Schwerkraft nehmen wir Fahrt auf und erreichen nach 8 Kilometern zum zweiten Mal den Ortseingang. Chip und ruft uns wieder die Zwischenzeit zu. Natürlich hat er gleich erkannt, dass es knapp wird und nun höre ich ihn "Tina, auf geht’s, Tina!" rufen. Er wird überhaupt nicht leiser, ich glaube, er rennt uns hinterher. Wohl dem, der einen Trainer hat, welcher mit seinen Schützlingen mithalten kann.

Ein zweites Mal geht es durch den Ortskern. Links, rechts, links – die Kurven und Ecken nehmen kein Ende. Dazwischen tauchen vertraute Gesichter auf, als Ordner, Fotografen, Zuschauer. Eine Frau ist aufgelaufen und wirbelt kreuz und quer durch unsere Dreiergruppe. Wo soll ich nur hin, ohne jemandem in den Weg zu laufen?

Der letzte Kilometer. Noch einmal diese kurze, fiese Steigung, der Heartbreak Hill von Bönnigheim. Hoffentlich geht das gut! "Durchziehen, Durchziehen" beschwöre ich Tina und halte das Tempo hoch. Endlose Sekunden verrinnen, bis wir die Kuppe erreicht haben, aber sie kämpft großartig und bleibt dran.

Endlich kann ich den Zielbogen in der Ferne sehen. "So, und jetzt ziehst Du durch wie sonst auch im Bahntraining auf der Zielgerade" hole ich meinen letzten Trumpf aus der Motivationskiste. Das ist nicht einmal geschwindelt; in der Tat stürmt sie auch nach der härtesten Trainingseinheit auf den letzten Metern regelmäßig an uns vorbei. War da so etwas wie ein Aufblitzen im erschöpften Blick zu sehen? Arme und Beine fliegen; mit voller Fahrt biegen wir auf die Zielgerade ein.

Unerbittlich wechselt die Sekundenanzeige auf der großen Zieluhr. Unter 40 Minuten schaffen wir es sicher, aber auch unter 39:45? Kurz vor der Ziellinie machen Dietmar und ich auf Gentleman und lassen der Dame den Vortritt. Das Gebrüll, mit dem wir sie auf die letzten Meter schicken, klingt allerdings weniger vornehm. Geschafft!

Die offizielle Zeitnahme ergibt 39:41 für Tina, eine tolle Leistung. Ich werde mit 39:42 gestoppt und Dietmar mit 39:45 (tja – man sollte bei Nettozeitnahme nie als Erster einer Gruppe über die Startlinie gehen). Eine bzw. zwei Sekunden an der angesagten Zeit vorbei, da kann doch niemand meckern. Aber Meckern ist jetzt auch in keinster Weise angesagt, denn im Zielbereich wartet schon eine große Gruppe unseres Vereins. Elke hat trotz Schongang wieder einmal gewonnen und auch sonst sehe ich beim Abklatschen lauter zufriedene Gesichter.

Ich bin ebenfalls sehr zufrieden. Es ist ein gutes Gefühl, auch ein klein wenig an einer neuen Bestzeit beteiligt gewesen zu sein (und ganz nebenbei an drei Treppchenplätzen in den verschiedensten Wertungen sowie einem Vereinsrekord). Meine Form ist schon besser als erwartet und der Wettkampf hat Lust auf mehr gemacht. Im nächsten Jahr sollte ich doch wieder einmal einen ernsthaften Angriff auf meine 10km-Bestzeit starten. Dann werden auch die "Blut, Schweiß und Tränen"/"Quäl Dich"-Fans unter den Lesern wieder auf ihre Kosten kommen – Versprochen!




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