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Über und über Überraschungen

Stuttgarter Zeitung-Lauf 2009

Schreckschuss
Stuttgart, 9:00 Uhr: Der Startschuss kracht und lässt vermutlich gerade ein paar erfahrene Stuttgart-Läufer vor Schreck ins Dixi-Klo plumpsen. Wer konnte auch damit rechnen: Anstatt der seit Jahren traditionellen Verzögerung ein auf die Minute pünktlicher Start! Erstes Indiz dafür, dass die Veranstalter – wohl auch aufgeschreckt durch einen dramatischen Einbruch der Anmeldezahlen – ihre Hausaufgaben gemacht haben.

Im Startblock gab es für mich bereits eine angenehme Neuerung: Durch meine aktuelle Halbmarathon-Bestzeit habe ich mich erstmals für den vordersten Block "qualifiziert". Hier gibt es Platz ohne Ende, kein Vergleich zu dem Gedränge der Vorjahre. Da hätte ich es notfalls auch noch ein paar Minuten länger ausgehalten ...

Kein mörderischer Sommer
Damit nicht genug der Überraschungen: Bereits am Morgen hatte uns das Wetter mit völlig untypischen Temperaturen erfrischt. Selbst altgediente Recken konnten sich nicht an solch sibirische Temperaturen zu dieser Juni-Veranstaltung erinnern und beim Gang zum Startblock war ich sogar einem Läufer im wärmenden Wegwerf-Müllsack begegnet.

Habemus insalatam
Da haben wir nun den Salat: Temperaturen jenseits der 25 Grad Marke waren in Stuttgart stets eine solide Ausrede für schwache Zeiten und sogar eine willkommene Gelegenheit, den vernünftigen Läufer zu geben, der unter solchen Bedingungen selbstverständlich auf seine Gesundheit achtet. Bei Temperaturen von 15 Grad klingt das heute aber nicht so richtig überzeugend. Also habe ich letztendlich "Attacke" beschlossen und die Marschtabelle zu meiner aktuellen Halbmarathon-Bestzeit (1:24:05) auf das Uhrenarmband gepappt. Meine Vereinskollegen Rüdiger und Reiner haben im Startblock etwas von einem 3:55er Kilometerschnitt erzählt, an die hänge ich mich einfach einmal dran. Seit dem Düsseldorf Marathon vor ein paar Wochen habe ich zwar das Training etwas lockerer angehen lassen und nicht gerade Bestform, aber bei den Temperaturen kann man schließlich auch einmal etwas riskieren. Nach gerade einmal 500 Metern und bei einem gefühlten 3:40er Schnitt lasse ich die Kollegen dann doch lieber ziehen und suche alleine meinen Rhythmus.

Tunnelblick
Gleich nach dem Start führt die Strecke über den Neckar und durch den berüchtigten Tunnel an der B14. Kein Vorjahresteilnehmer, der nicht Schreckliches von der Durchquerung dieser Bratröhre zu berichten wusste. Die Kurssetzer haben darauf prompt reagiert und führen die Strecke in diesem Jahr gleich zweimal durch den Höllenschlund. Heute sind die Temperaturen glücklicherweise erträglich und ich versuche, meine Kilometerzeiten unter 4 Minuten zu halten.

Nichts Gutes im Schilde
Das Kilometerschild "3" stellt diese Strategie sogleich auf eine harte Probe, denn das steht dermaßen weit von der korrekten Position entfernt, dass dies schon beinahe das Ergebnis einer besonderen Anstrengung sein muss. Um grob geschätzte 300m hat man sich verpeilt, da könnte man die Schilder eigentlich auch gleich irgendwie zufällig verteilen. Das hätte man schon durch einfaches Abschreiten der Strecke genauer messen können ...

Winkelzüge
In der City wird die Streckenführung furchtbar verwinkelt. Unzählige 90-Grad-Ecken kosten Tempo und reißen an den Gelenken. Vier Stück von dieser Sorte, nur um ein paar Meter auf der Königstrasse zu laufen, ob es das wert ist? Immerhin habe ich den Eindruck, dass sich diesmal zu dieser frühen Uhrzeit wenigstens ein paar Zuschauer mehr eingefunden haben, wenn auch manch glasiger Blick eher auf verirrte Nachtschwärmer als auf sportbegeisterte Fans schließen lässt.

Namenstag
Auch in Stuttgart werden Startnummern mit den Vornamen der Teilnehmer bedruckt und die Zuschauer machen heute so richtig mit. Immer wieder werde ich mit meinem Namen angefeuert. Sogar am Getränkestand wird die Erfrischung mit einem "Auf geht's Joachim" serviert, und als ich ein Spalier "Joachim! Joachim!" kreischender Cheerleader passiere, fühle ich mich fast wie auf dem Einmarsch zum Superbowl.

Kilometer 8-9. Der Anstieg zum Justizviertel zieht sich endlos Richtung Himmel. Immerhin erreichen wir hier laut Höhenprofil den höchsten Punkt der Strecke. Zur Belohnung geht es dann erst einmal richtig bergab. Wie hat Kurt Stenzel gestern im Gesundheitssymposium geraten? "Bergab kleine Schritte machen und laufen lassen". Das klappt wirklich gut und ich überhole auf dieser Passage eine Menge Läufer.

Nach 10 Kilometern zeigt die Uhr 39:50. Super, das ist genau der Kurs auf eine Bestzeit, zumal die schlimmsten Steigungen jetzt hinter mir liegen.

Hatte ich die 90-Grad-Kurven in der City bereits für den Gipfel der Gemeinheiten dieser Kurs-Choreografie gehalten, so werde ich nun eines Besseren belehrt. Plötzlich kommt eine Wende auf engstem Raum und die Strecke führt genau in Gegenrichtung weiter. Also Stöhnen, Abstoppen, Wenden, Fluchen und ächzend wieder Tempo aufnehmen.

Reiner Wahnsinn
Nach der Brücke über den Neckar müsste irgendwo mein Vereinskollege Thomas mit einer Getränkeflasche auf mich warten. Ob das wohl klappt? Zunächst einmal kennt er mein Laufshirt nicht, da ich heute für meine Firma anstatt für die LG Neckar-Enz laufe. Außerdem hat er vermutlich den ganzen Rucksack mit Flaschen beladen und muss zwei direkt vor mir laufende Kollegen versorgen. Aber Thomas ist ein Profi und hat schon die richtige Flasche in der Hand. "15 Sekunden vor dem Reiner" ruft er mir zu. Hä?!? Hinter mir sollte nur ein Reiner aus dem Verein liegen, und der macht heute den 1:30-Pacer. Sieht er schon dessen 1:30-Ballon? Wenn mir der jetzt im Nacken sitzt, bin ich aber reichlich spät dran. Der Schreck fährt mir in die Beine, bis nach und nach die Erkenntnis durchsickert, dass er wohl eher 15 Sekunden hinter Reiner und damit dessen vor mir laufenden Namensvetter gemeint haben muss.

So langsam wird es schwer, mir fehlen im Training wohl doch ein paar Tempodauerläufe, um die Geschwindigkeit über die gesamte Distanz zu halten. Sekunde um Sekunde geht verloren. Die Bestzeit kann ich mir wohl abschminken und auch um die 1:25 muss ich nun richtig kämpfen.

Der Leerstrecker
Die zweite Hälfte führt in diesem Jahr nicht mehr durch jene endlosen, menschenleeren Straßenschluchten, in denen selbst Mad Max Depressionen bekommen hätte. Heute geht es durch die Innenstadt von Bad Cannstatt, eine deutlich bessere Alternative. Leider hat sich hier nur wenig Publikum eingefunden, diese Stelle könnte sonst ein wirkliches Highlight sein.

Bei Kilometer 19 geht es dann noch einmal eine allseits gefürchtete Rampe hinauf. In den letzten Jahren war dies immer eine sichere ABM-Stelle für Sanitäter, diesmal sieht es bei äußerst gnädigen Temperaturen sehr ruhig aus. Trotzdem zieht der Anstieg mächtig in die Beine und ich muss noch ein paar Sekunden liegen lassen.

Alt aussehen
Die Strecke zirkelt verführerisch nah an das Ziel heran, nur um dann noch einmal zu einer weiteren Schleife abzubiegen. Es ist nun richtig hart und ich muss mächtig knautschen. Jetzt müssen die ganz alten Psychotricks herhalten und ich versuche, mich an ein paar Läufern festzubeißen. "Hier, der Typ sieht doch auch nach Generation Bonanzarad aus. Bleib dran, wenn du den packst, rutschst du in der Altersklassenwertung möglicherweise noch einen Platz nach vorne!".

Auf dem letzten Kilometer sind die 100-Meter-Abschnitte einzeln markiert, eine sehr gute Idee. Wenn man ein Schild passiert, ist das Nächste schon in Sichtweite, das ist psychologisch sehr hilfreich. Allerdings zählen die Schilder aufsteigend von 0 bis 9 anstatt rückwärts die verbleibende Distanz. Unter akutem Sauerstoffmangel fordern die notwendigen Rechenoperationen meine geistigen Restfähigkeiten aufs Äußerste.

Gegen die Wand
Endlich presche ich die Zielgerade hinunter. Nun kann man dem Zieleinlauf ins große Stadion natürlich hinterher weinen und ich habe das in den vergangenen Jahren auch bereits ausgiebig getan. Immerhin hat der Veranstalter aber das Möglichste getan, um auch diesmal für Stimmung und Atmosphäre zu sorgen. Neben der Zielgeraden ist eine lange Zuschauertribüne aufgebaut und ich laufe direkt auf eine riesige Videowand zu. Vor lauter Hinschauen komme ich beinahe ins Straucheln, aber es reicht dann doch noch für einen brauchbaren Endspurt.

1:24:39. Die erhoffte Bestzeit ist es leider nicht geworden, aber mit einer Zeit unter 1:25 bin ich immer noch sehr zufrieden. Rüdiger und Reiner erwarten mich schon im Ziel und auch der Rest der Truppe trudelt im Minutentakt ein.

Nun geht es zum Bereich mit der Zielverpflegung, der wegen des Stadionumbaus an völlig neuer Stelle eingerichtet wurde. Ich bin schon sehr gespannt, hat man hier organisatorische Neuerungen im ersten Versuch doch gerne einmal in den Sand gesetzt (ich denke noch mit Grauen an eine völlig verunglückte Kleiderbeutel-Abgabestelle vor ein paar Jahren). Nicht ohne allerdings – das sei zur Ehrenrettung der Organisatoren gesagt – solche Probleme im Folgejahr üblicherweise prompt abzustellen.

Immerhin ist es keine leichte Aufgabe, eine fünfstellige Teilnehmerzahl geordnet und flüssig zu leiten sowie mit ausreichend Platz und Getränken zu versorgen. Doch dann die letzte Überraschung für heute: Nach einem etwas beschwerlichen Übergang mit einer für Halbmarathon-Finisher mörderisch steilen Brücke öffnet sich vor uns ein großer, schöner Rasen mit vielen, weiträumig aufgestellten Versorgungsständen. Welch ein Kontrast zu dem sonst üblichen Gedränge in einer Betonwüste. Wie auf Kommando öffnet sich nun auch noch die Wolkendecke und rundet eine gelungene Veranstaltung mit einer Menge positiven Überraschungen ab.




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