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High Noon auf dem Bonner Marktplatz

Bonn-Marathon 2007

Bonn-Marathon 2007, Startblock. Um 8:50 Uhr wird der Startschuss erfolgen und es ist mein großer Wunsch, gegen 12 Uhr im Ziel zu sein. Immerhin wurde mein genau 3 Wochen alter Wunsch vom Berliner Halbmarathon nach einer transparenten Folie als Wärmeschutz bereits erhört. Die magentafarbene Folie eines der Sponsoren ist zwar nicht sonderlich kleidsam, dafür aber durchsichtig und so kann ich mit dem schwarzen Punkt des ersten Startblocks auf meiner Startnummer wunderbar herumprahlen.

Eye of the Marathon
Das Intro von "Eye of the Tiger" hämmert durch die Lautsprecher und läutet den Countdown zum Start ein. Das kommt genau richtig, im Takt hüpfe ich mich warm und pushe mich auf. "It's the Eye of the Tiger..." - Durch das Starttor kann ich tatsächlich in das "Auge des Marathons" sehen. Auch bei meinem fünften Start ist das Kribbeln nicht weniger geworden. "... it's the thrill of the fight" Das ist es, darum geht es letztendlich: Wie habe ich diesen Kick vermisst, als ich beim letzten Köln-Marathon verletzungsbedingt nur den Pacemaker für den Halbmarathon spielen konnte.

Ein letztes Mal nehme ich mich selbst ins Gebet: "Junge, du hast gut trainiert, bist fit und hast beim Halbmarathontest vor drei Wochen eine tolle Bestzeit hingelegt. Jetzt reiß' dich zusammen, bring das auf die Straße und überzieh' um Himmels willen nicht wieder auf den ersten Kilometern! Vorsichtig, vorsichtig, vorsichtig!"

Mit dem Startschuss findet die fetzige Musik ein jähes Ende und wird durch rheinisches Liedgut ersetzt. Nach wenigen Metern geht es über die Kennedybrücke. Den ersten Kilometer stoppe ich mit 4:32. Sehr gut getroffen, peile ich doch Kilometerzeiten um 4:30 an, was am Ende 3:10:00 ergeben würde. Die nächsten Kilometer bleiben meist knapp unter 4:30 und der Puls gerade noch im grünen Bereich. Das lässt sich doch gut an.

Auf der Gegenseite einer Wendestrecke flitzen mir bereits die farbigen Spitzenläufer entgegen; wenig später die erste Frau. Unglaublich, was die für ein Tempo vorlegen!

Kurz vor einem Wendepunkt an Kilometer 5 gibt es das erste Mal Verpflegung. Ich habe meine bewährten Flaschen mit Eigenverpflegung abgegeben und warte, wie immer etwas bange, ob das mit dem Transport auch wirklich geklappt hat. Schließlich hatte die Dame an der Startnummernausgabe sie nur irgendwo in einer dunklen Ecke unter der Theke verschwinden lassen. Aber da steht schon die richtige Flasche - Super! Meine Eigenverpflegung hat zwar optisch eher etwas von Eigenurin-Verpflegung, aber so bekomme ich reichlich Flüssigkeit ohne schwappende Becher und dazu einen kräftigen Schuss Kohlenhydrate.

Flower Power
Auf einmal ist die ganze Straße in zartes Rosa getaucht. Nein, ich habe immer noch die Sonnenbrille und keine rosa Brille auf der Nase. Aber eine Reihe blühender Bäume hat einen dicken Blütenteppich über die Straße gelegt.

Schon jetzt ist das Feld weit auseinander gezogen. Nachdem eine kleine Gruppe vor mir um die nächste Ecke gebogen ist, bin ich scheinbar allein auf der Strecke.

Wo bitte geht's nach Marathon?
Der erschreckend große Abstand zu den Vorderleuten jagt mir einen Schauer über den Rücken. In der zurückliegenden, unruhigen Nacht hatte ich zum ersten Mal in meiner inzwischen fünfjährigen Laufkarriere einen Marathon-Albtraum. Mit glänzendem Tempo auf Kurs in Richtung Traumzeit war ich plötzlich unerwartet früh im Ziel; es mussten noch drei oder vier Kilometer fehlen. Ich war falsch abgebogen! Mitten im schrecklichen Frust wachte ich auf ... Also aufgepasst, immer konzentriert nach Streckenmarkierungen und Absperrungen Ausschau halten!

Auf dem Rückweg über die Rheinbrücke steht plötzlich eine Art Clown in den französischen Nationalfarben neben mir, schwenkt ein Schild auf einem Baguette und feuert mich an. Habe ich den nicht schon oft auf Fotos und in Fernsehreportagen gesehen? Ja, es ist tatsächlich der berühmte Michel "Monsieur Baguette" Descombes! Heute läuft er wohl den Halbmarathon, welcher erst später gestartet wird.

Am Rheinufer entlang bläst mir der Wind kräftig entgegen und es gibt keine Mitstreiter in Reichweite, um ein wenig im Windschatten zu laufen. Es sind bestimmt 50m bis zu einer Fünfergruppe vor mir, da würde ich jetzt gerne mitlaufen. Nach hinten klafft ebenfalls eine beträchtliche Lücke, auch da habe ich keine Unterstützung zu erwarten. Ich opfere ein paar Sekunden und halte damit meinen Puls im Zaum. Noch ist es viel zu früh, um unnötig Kraft zu verpulvern.

Neben der Kapp'
An der zweiten Verpflegungsstelle stehen zwei meiner Flaschen einträchtig nebeneinander. Mist, jetzt haben die doch etwas verbockt! Ich schnappe mir eine der Flaschen und lese die Aufschrift: "Stand 6, km 25,6". Na prima - da wird sie mir dann bitter fehlen! Ich erwische noch einen Becher Wasser und kippe mir den Inhalt zur Abkühlung über den Kopf. Der Strahl plätschert praktisch ungebremst neben mir herunter. Da habe ich doch glatt die Kappe vergessen, für die ich mich kurz vor dem Start noch entschieden hatte. Unter dem Gejohle einiger Zuschauer, welche die Szene beobachtet haben, hebe ich die Kappe und verteile die letzten Wasserreste auf meinem Haupt. Die haben gut Lachen, bei dem Tempo ist es mit dem Denken nicht mehr weit her ...

Schulmäßig
Auch hier in Bonn gibt es inzwischen eine Schülerstaffel. An der nächsten Wechselstelle verstopft eine Menge aufgeregter Schüler und Eltern die Straße, es gibt kaum ein Durchkommen. Kurz darauf jagt ein blonder Knirps von hinten heran, wirft mir einen coolen Blick von der Seite zu und zieht langsam davon. Der ist jetzt vermutlich ganz schön stolz. Und Recht hat er: Auch wenn er nur ein paar Kilometer laufen muss, ist ein Schnitt unter 4:30/km eine saubere Leistung. Aber es ist schon etwas frustrierend, wenn man derart locker abgehängt wird.

GPSP
Die Halbmarathonmarke passiere ich in 1:34:10, wenn ich nicht nachlasse, müsste das am Ende für eine Zeit unter 3:10 reichen. Bonn scheint wirklich ein gutes Pflaster für mich zu sein. Das Pflaster selbst ist allerdings nicht so der Hit. Löcher, Spurrillen, sogar hin und wieder ein paar Meter Kopfsteinpflaster malträtieren die Beine und machen die Ideallinie nicht immer zur besten Wahl.

Vorbild-Bild
Die Straßenverhältnisse können mein Faible für den Bonn-Marathon jedoch kaum beeinträchtigen. Ein einziges Marathonbild habe ich zu Hause aufgehängt, mein Zielfoto vom Bonn-Marathon 2005. Damals hatte der Fotograf exakt im richtigen Moment den Auslöser gedrückt und genau jenen wunderbaren Augenblick festgehalten, als ich nach einem tollen, superschnellen Lauf realisiert hatte, was mir gerade gelungen war. Wann immer ich mich an einem kalten, regnerischen Winterabend, nach einem anstrengenden Arbeitstag frage, warum ich jetzt eigentlich noch einmal da hinaus zum Laufen soll, genügt ein Blick auf das Foto: genau für diesen Moment, für dieses unbeschreibliche Gefühl. Bis zum Zielfoto habe ich heute allerdings noch ein ganzes Stück vor mir.

Pünktlich an Kilometer 30 steht oder geht eine ganze Reihe von Läufern mit Krämpfen am Straßenrand. Nun wird es auch langsam unangenehm warm. Ich liefere mir ein kleines Scharmützel mit einem weiteren Schülerstaffel-Läufer. Diesmal hat der Kerl aber beinahe meine Körpergröße und diesmal bleibe ich Sieger. Tja Bursche, auch mit 30km in den Beinen kann ich dich noch aus den Schlappen laufen ...

Der sonst so harte Abschnitt zwischen Kilometer 30 und 35 ist ein einziger Triumphzug. Es geht mir blendend, lediglich das linke Fußgelenk schmerzt ein wenig. Ich bin völlig aufgedreht, eigentlich schon etwas überdreht. Die Anspannung der letzten Tage ist abgefallen. Die normalerweise härtesten Kilometer des Marathons vergehen wie im Flug. Ich habe Kraft und Lust, den Zuschauern zuzuwinken, den Bands Beifall zu klatschen, mich mit hochgerecktem Daumen für die Anfeuerung zu bedanken.

An der nächsten Verpflegungsstelle schallt mir "Call on me" entgegen. Mit dem Refrain auf den Lippen hopse ich im Rhythmus der treibenden Beats auf den ersten Tisch zu und fische meine Pulle aus den aufgestellten Flaschen heraus. Der Helfer am Stand starrt mich an, als wäre ich gerade aus einem Ufo gefallen.

Ein Stück weiter bildet die Zuschauermenge ein dichtes Spalier um einen schmalen Durchgang. Eine Sprecherin feuert uns über Mikro und Lautsprecheranlage einzeln an. Ich winke in die Menge, tauche mit ausgebreiteten Armen ich in das Spalier ein und klatsche gleichzeitig links und rechts die mir entgegen gestreckten Hände ab. "Mensch Joachim - Du feuerst ja uns an anstatt wir Dich!" schallt es aus dem Lautsprecher. Auch in Bonn sind die Vornamen auf die Startnummer gedruckt und machen den Kontakt zum Publikum etwas persönlicher.

Wie geplant, lasse ich am Anstieg der Viktoriabrücke nach Kilometer 35 ein paar Sekunden liegen. Das kann ich mir locker leisten und ich möchte kein Risiko für meine braven Beine eingehen.

"No, no, never" schallt es aus dem nächsten Lautsprecher. Also Leute, was sind denn das für Motivationshilfen?!? Heute kann mich nichts mehr erschrecken, aber wenn ich so etwas auf den letzten Kilometern des letzten Düsseldorf-Marathons gehört hätte ...

Auch hier geht es nicht mehr allen Mitstreitern wirklich gut. Vor mir setzt sich ein Läufer nach einer Gehpause wieder im Laufschritt in Bewegung. Ich sage ihm ein paar aufmunternde Worte. "Nur noch 5 Kilometer" murmelt er zurück.

Ire ist menschlich
Weit vor mir taucht eine Läuferin mit langem, baumelnden Zopf auf und ich komme ihr langsam näher. Seltsam, für eine Läuferin dieser Leistungsklasse hat sie wahrlich eine wenig grazile Figur. Der Abstand wird geringer und mir kommt nach und nach der Verdacht, dass es sich auch um einen Läufer handeln könnte. Dann entdecke ich davor das Motorrad mit dem Kameramann und endlich fällt der Groschen: Das muss Joey Kelly sein! In den Ankündigungen zum Bonn-Marathon hatte ich gelesen, dass dieses sportliche Mitglied der Kelly-Family heute teilnehmen würde. Und jetzt fällt mir auch das Begleitfahrrad auf. Als ich die Gruppe passiere, entnehme ich dem Schild am Fahrrad, das ich gerade die Begleitung eines Topathleten überhole. Das ist mir auch noch nie passiert, aber nun wirklich kein schlechtes Gefühl. Da ich nicht schneller geworden bin, muss er wohl seinem Anfangstempo Tribut zollen. Ob er sich doch an den 3 Stunden versucht hat? Laut Pressebericht bereitet sich Joey hier allerdings eher auf einen 100km-Lauf und Schlimmeres vor.

Kilometer 40. Trotz erhöhtem Einsatz bin ich auf dem letzten Kilometer fast 10 Sekunden langsamer geworden. Jetzt habe ich meine Grenzen erreicht. Ich liege fast auf die Sekunde genau 2 Minuten unter der 3:10er Marschtabelle. Wenn ich doch noch einmal irgendwie das alte Tempo schaffen könnte, wäre mit einem Schlussspurt eine 3:07:irgendwas möglich.

Zwölf Uhr mittags
Jetzt gebe ich alles. Mein Puls schnellt in die Höhe, der Atem fliegt, die Zuschauer verschwimmen schemenhaft am Rande des Gesichtsfelds. Ich stelle mir immer wieder die 3:07 auf der Uhr vor. 3:07, 3:07 - Der letzte Kilometer zieht sich endlos dahin. 3:07, 3:07... Noch eine letzte Kurve, dann taucht der Zielbogen am Bonner Marktplatz vor mir auf. Diesmal erspart ein roter Teppich die letzten Meter auf dem Kopfsteinpflaster. Die große Uhr am Zieltor zeigt 3:07, sogar brutto! Es ist kein Traum mehr, das klappt! Jubelnd fliege ich ins Ziel - 3:07:38!

Gerade, als ich wieder zu Atem komme, schlägt es 12 Uhr ...




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