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Karneval in Düsseldorf:
Mein erster Marathon

Endlich stehe ich im Startblock, gleich werde ich meinen ersten Marathon angehen. Die letzten Tage war ich doch ziemlich angespannt, es wird Zeit, dass es endlich losgeht.

Heute morgen beim Frühstück hatte sich der Amerikaner neben mir sicher köstlich amüsiert, als er mir zusah, wie ich lustlos auf meinem Honigbrötchen herumkaute. Er selbst war bester Laune, ziemlich locker und zeigte mir sein Finisher-Shirt vom Boston-Marathon. Der war gerade vor zwei Wochen. Der Typ spachtelte so ziemlich alles, was laut Lehrbuch vor dem Wettkampf eigentlich verboten ist: Vollkornbrötchen, Joghurt und noch jede Menge anderen Kram vom reichhaltigen Frühstücksbüffet. Mit 25 Jahren Lauferfahrung und bereits 39 absolvierten Marathons wird er wohl wissen, was er verträgt.

Ich habe eine Zeit von 3:45 angepeilt und mich deshalb neben dem 3:45-Pacemaker aufgestellt. Für den Fall, dass alles super laufen sollte, klebt sogar eine 3:40er-Marschtabelle auf meinem Uhrenarmband. Schließlich möchte ich am Ende wissen, ob sich ein Schlussspurt lohnen könnte. Falls mir am Ende noch nach Spurten zumute sein sollte... Üri, der mich nach dem Halbmarathontest vor drei Wochen mit wertvollen Tipps versorgt hat, hielt diese Zeit für machbar.

Der Startschuss ist wie eine Erlösung, endlich geht’s los. Der erste Kilometer ist noch etwas langsam, aber man soll einen Marathon schließlich vorsichtig angehen. Auf dem zweiten Kilometer will der Pacemaker das anscheinend sofort wieder hereinholen und er verschärft deutlich das Tempo. Mein Puls liegt schon weit jenseits dessen, was ich mir für die erste Hälfte als Limit gesetzt habe und das Tempo fühlt sich auch längst nicht so locker an, wie ich mir das vorgestellt habe. Als auch der nächste Kilometer keine Besserung bringt, lasse ich den Pacemaker schweren Herzens ziehen und versuche, mein eigenes Tempo zu finden. Das gelingt mir bei Kilometerzeiten von ca. 5:30. Der Puls ist immer noch etwas höher als geplant, hoffentlich rächt sich das nicht am Ende. Vom 3:45er-Traum beginne ich mich zu verabschieden, aber unter 4 Stunden sind für den ersten Marathon schließlich auch nicht übel und dafür müsste es reichen. Wenn nicht irgendwann der große Einbruch kommt.

Auf den ersten Kilometern ist das Düsseldorfer Publikum nur spärlich vertreten. Es ist noch früh und das Wetter ist auch nicht so toll für die Zuschauer. Für uns Läufer ist es hingegen prima; angenehm kühl, trocken, und ein erträglicher Wind, der sich nur selten etwas störend bemerkbar macht.

Eine Frau mit eindrucksvoller Statur überholt mich, die habe ich doch irgendwo schon einmal in einem Triathlon-Dress gesehen. Genau: Vor drei Wochen, bei meinem Halbmarathontest in Rheinzabern. Sie überragt meine 1,82 um mindestens einen halben Kopf. In Rheinzabern bin ich – auch einmal ein paar Früchte der Emanzipation ernten wollend – ein paar Minuten in ihrem Windschatten gelaufen. Heute muss ich sie ziehen lassen.

5km, 0:27:17

Der Ballon des 3:45er-Pacemakers ist schon ein ganzes Stück vor mir.

Bei Kilometer 7 geht es wieder in der Nähe des Starts vorbei und die Stimmung am Streckenrand ist zum ersten Mal wirklich Klasse. Meine Stimmung ist weder besonders schlecht noch besonders gut: Die entschwindenden Traumzeiten sind etwas schade, aber ich will jetzt zumindest meinen ersten Marathon finishen. Trotzdem soll das jetzt gefälligst „mein Tag“ werden – und basta.

10 km, 0:54:03 (0:26:46)

Immerhin bin ich bei gleich bleibendem Puls einen Hauch schneller geworden, das sind doch schon so langsam Zwischenzeiten für eine 3:45. Der Pacemaker ist ein ordentliches Stück voraus, aber doch meist noch in Sichtweite. Wenn ich jetzt das Tempo stabil halten könnte und auf den letzten, sagen wir mal 5 Kilometern noch Reserven hätte...?!

Ich fühle mich auch auf einmal viel lockerer. Natürlich habe ich oft genug gehört, dass ein Marathon erst nach 30 Kilometern so richtig losgeht. Darum beschließe ich, wenigstens auf den nächsten 20 Kilometern meinen Spaß zu haben. Die Zuschauer werden immer zahlreicher und verbreiten eine tolle Stimmung. Ich klatsche ganze Spaliere von herausgestreckten Kinderhänden ab. Ich opfere für ein paar Schritte meinen Laufrhythmus, um für einige Sekunden im Takt der Samba-Bands hopsen zu können. Mein Tempo wird ein wenig flotter, trotzdem wird der Puls ein wenig ruhiger – das wird doch noch mein Tag.

15km: 1:20:36 (0:26:33)

Hier müsste an der Verpflegungsstelle meine erste Flasche Eigenverpflegung stehen. Ob ich sie finden werde? Zumindest habe ich sie liebevoll mit allerlei Aufklebern in schockigen Leuchtfarben verziert.

Der Tisch mit den Flaschen sieht gar nicht so voll aus: Entweder sind die typischen „Eigenverpfleger“ längst vorbei und haben ihre Flaschen bereits aussortiert, oder dieser Service wird einfach wenig genutzt. Jedenfalls kann ich ohne Abbremsen meine Flasche sofort finden und bin schneller an der Verpflegungsstelle vorbei als an den letzten, an denen ich mir jeweils einen Becher Wasser abgeholt hatte. Jetzt kann mein Eigengebräu aus stark verdünnter Mineraltablette, Maltodextrin und etwas Salz zeigen, was es taugt. Zumindest lässt es sich aus der „Nuckelflasche“ im Laufen deutlich besser trinken, als das Wasser aus den Bechern.

Ich fühle mich großartig und die Stimmung am Streckenrand ist ebenfalls großartig. Als ich an einer Rock’n Roll-Band vorbeikomme und mit Hüften und Armen ein Tänzchen andeute, ernte ich intensive Anfeuerungsrufe des Publikums. So langsam liegen meine Zwischenzeiten immer ein paar Sekunden unter den 3:45er-Sollsplits. Eigentlich müsste der Pacemaker näher kommen. An einem Wendepunkt merke ich mir einen markanten Punkt und stoppe meinen Abstand zum Pacemaker: ziemlich genau eine Minute. Wenn ich am Ende noch ein paar Körner haben sollte, ist wohl ein Spurt fällig. Aber ich habe noch nicht einmal die Hälfte hinter mir und ich bin noch ein gutes Stück von dem Abschnitt entfernt, auf dem der Hammermann lauern soll. Schaunmermal...

20km: 1:46:55 (0:26:19)

Mein Puls geht eher zurück und ab der Halbmarathonmarke wollte ich mir eigentlich einen Tick mehr erlauben. Bei Kilometer 21 verdopple ich die Zwischenzeit und komme schon auf eine Zeit knapp unter 3:45. Ich lamentiere mit meinem Nachbarn über den zu schnellen Pacemaker und merke nicht einmal anschließend beim Überschreiten der Halbmarathon-Zeitmatten, dass ich bei meiner Rechnung knapp 200 Meter unterschlagen habe.

Wie geplant, lockere ich jetzt etwas die Zügel und die Kilometerzeiten werden noch besser. Sie pendeln um die 5:05, ab und zu bleibt sogar die 4 auf der Minutenziffer stehen – Wow! Und ich fühle mich immer noch super. „Jetzt bin ich eigentlich schon auf dem Rückweg“, rede ich mir ein. Ich winke zu den Fenstern hinauf, aus denen uns die Bewohner anfeuern. Aus einigen Lautsprechern tönt Popmusik und ich singe kurz mit. Mein Pacemaker ist jetzt definitiv ein paar Meter näher gekommen. Und die Zuschauerreihen werden dichter, an einigen Stellen ist der Lärm fast ohrenbetäubend.

25km: 2:12:20 (0:25:25)

Die erste der beiden Rheinbrücken rückt näher. Während ich heute morgen noch besorgt die Steigung betrachtet hatte, freue ich mich jetzt bereits ein paar Kilometer vorher auf die tolle Aussicht. Und der Ballon meines Pacemakers rückt weiterhin näher. Ich widerstehe nur schwer der Versuchung, mit einem Zwischenspurt zu ihm aufzulaufen. Aber auch so habe ich seine Gruppe kurz vor dem Anstieg erreicht. Die Gruppe nutzt die ganze Straßenbreite voll aus und macht ein Durchkommen fast unmöglich. So habe ich für ein paar Augenblicke Zeit, den Blick auf den Rhein zu werfen, wo ein Feuerwehrschiff eine prächtige Wasserfontäne in die Luft schießt. Und dort drüben ist der Zielbereich: Wie wird es mir wohl gehen, wenn ich dort bin?

Endlich habe ich mich durch die Läufergruppe gezwängt – da laufe ich bereits auf die nächste Gruppe auf. Einer der Läufer führt ebenfalls einen kleinen Ballon mit sich, anscheinend wollen noch mehr Leute die 3:45 gemeinsam packen. An den letzten Erfrischungsstellen war das Feld genügend auseinander gezogen, um wenigstens einigermaßen an die Tische heranzukommen. Jetzt in diesem Pulk ist es aber eine Qual. Nach den Tischen mit den Wasserbechern baut sich eine Wand von stehenden oder gehenden Teilnehmern auf, an das Wasser für die Schwämme kann man nicht mehr herankommen. Zum Glück steht alle 5 Kilometer meine eigene Flasche mit einem halben Liter parat, da kann ich auf das weitere Angebot eine Weile verzichten.

Ich fasse es nicht: Kaum habe ich mich durch diese Gruppe hindurchgewurstelt, taucht noch ein Ballon mit der Aufschrift 3:45 auf... Aber irgendwann habe ich den auch passiert. Obwohl ich angesichts der magischen 30km-Marke versuche, so locker wie möglich zu bleiben, schaffe ich weiterhin ein konstantes Tempo.

30km: 2:37:52 (0:25:32)

Jetzt wird es also ernst. Tatsächlich legen nun einige Läufer Gehpausen ein, von den totenbleichen Zombies aus so vielen Laufberichten ist allerdings nichts zu sehen. Die Temperaturen meinen es heute gnädig mit uns Läufern.

Immer häufiger bleibt die Uhr an den Kilometermarken vor der 5 Minutengrenze stehen – Geil! Eigentlich geht’s mir gar nicht so übel. Das wird mein Tag! Bei der 30er Marke habe ich zum ersten Mal vorsichtig auf die 3:40er Marschtabelle geschielt. Ich liege ca. eineinhalb Minuten zurück. Das Kopfrechnen mit diesem blöden 60er System fällt mir jetzt unendlich schwer. Aber ich muss weniger als 10 Sekunden pro Kilometer aufholen. Und zur Zeit schaffe ich das. Jetzt bloß nicht noch einen Krampf oder so etwas.

Meine Beine laufen inzwischen nicht mehr automatisch, fühlen sich aber prinzipiell noch ganz ordentlich an. Auch Blasen sind kein Thema – mein Dank an das Laufforum mit den guten Tipps zur Hirschtalgcreme.

Wieder versuche ich ein paar Sekunden angedeutete Tanzeinlage zum Sound der „Toten Hosen“, das macht sich nun aber sogleich mit heftigerem Atmen und erhöhtem Puls bemerkbar. Sollte ich vielleicht so langsam besser bleiben lassen.

Immer wenn ich mich frage, ob noch alles in Ordnung ist, bemerke ich irgendwo ein leichtes Ziehen oder Stechen und erwarte sogleich ein großes Problem. Aber eigentlich ähnelt das nur meiner obligatorischen Vorwettkampf-Hypochondritis: Eigentlich ist nichts.

Bei Kilometer 32 beginnt das Niemandsland. Nie bin ich im Training weiter gelaufen. Und so schnell schon überhaupt nicht. „Nur noch ein kleiner 10km Feierabendlauf“ rede ich mir ein.

35km: 3:02:49 (0:24:57)

Mir fehlt noch eine halbe Minute zur 3:40er-Durchgangszeit. In allen Büchern steht, dass man ab hier seine letzten Körner verschießen darf. Hau rein!

Wo ist eigentlich der Verpflegungsstand mit meiner 35km-Flasche? Bei Kilometer 36 habe ich die Befürchtung, dass ich ihn übersehen haben könnte. Aber ich habe vorgesorgt und ein paar Päckchen Powergel bei mir. Nach km 37 müsste wieder ein Erfrischungsstand kommen, also zücke ich ein Powergel und als die ersten Schilder mit der Aufschrift „Wasser“ in Sicht kommen, drücke ich den süßen Glibber hinunter. Hey, da steht eine Flasche von mir – ich hätte mich besser informieren sollen, wo die Verpflegungsstände sind. Das Getränk ist wirklich notwendig, das Gel scheint den ganzen Hals zu verkleistern.

Dann sehe ich sie, die Oberkasseler Brücke. Nach einer über einen Kilometer langen Geraden, die schnurgerade darauf zu führt. Obwohl ich nach den Berichten vom letzten Jahr bereits einiges erwartet habe, bin ich überwältigt. Ich kann von weitem nur eine riesige Menschenmasse erkennen, aber keinen Durchgang für die Läufer. Und tatsächlich wird die Gasse immer enger, die Zuschauer veranstalten ein unbeschreibliches Spektakel. Ein Ansager schreit durch die Lautsprecheranlage: „Nur noch 4,1 Kilometer für Joachim Stehle“!!! Jetzt bin ich sicher, es muss mein Tag sein!

Ich wollte die Brücke hinauf unbedingt einen Gang zurückschalten, um nicht so kurz vor Schluss einen Krampf zu riskieren. Aber das ist unmöglich, die Zuschauer brüllen, jagen, peitschen mich hinauf. Ich spüre die Steigung kaum, laufe wie im Rausch. Zum einzigen Mal am heutigen Tag verpasse ich eine Kilometermarke.

Die Brücke hinab wird es einen Tick ruhiger. Ich komme wieder etwas zur Besinnung und auf einmal sehe die Triathletin wieder vor mir auftauchen. Als ich zu ihr auflaufe, beschleunigt sie auf mein Tempo und ich laufe wieder einmal hinter ihr her. Deja vu. Als das Gefälle abnimmt, gehe ich vom Gas, während sie weiter davonzieht. „Ladies first“, ich will mein Tempo laufen und nichts riskieren. Überall stehen Läufer am Straßenrand und dehnen ihre Krämpfe. So kurz vor dem Ziel. „Versuche locker zu laufen“ rede ich mir ein. Was man nach der Strecke eben noch „locker“ nennen kann...

40km: 3:22:32 (0:24:30)

Ich traue meinen Augen nicht, die letzten zwei Kilometer bin ich in einem unglaublichen Tempo (je 4:48) gerannt. Noch einmal um den Block, dann muss die Zielgerade am Rheinufer kommen. Die letzten Kilometer zischen wie im Flug vorbei.

Vor mir taucht die Triathletin wieder auf. Und da vorne ist die Kurve auf die Zielgerade. Heute Morgen hatte ich mir sehnsuchtsvoll gewünscht, endlich so weit zu sein. Jetzt bin ich hier!

Auf einmal packt mich die Eitelkeit. Ich will von meinem ersten Marathon ein tolles Finisher-Foto. Wenn die Triathletin direkt vor mir einläuft, ist von mir höchstens ein Ärmel vom Laufshirt zu sehen. Und vor ihr laufen noch drei so Typen „im Bild“ herum, dann kommt eine Lücke. Ich ziehe an und meine Beine spucken ohne zu Murren noch einmal ein wenig zusätzliche Geschwindigkeit aus. Ich kurve um das Grüppchen herum und strahle in die Menge der Zuschauer. Da vorne ist das Ziel, jetzt kann nichts mehr schief gehen! Ich fliege die letzten Meter den Rhein entlang, reiße die Arme hoch! Jaaaaaaa – ich hab’s geschafft!

42,195km: 3:37:19

Ich bin nur noch glücklich. Das ist mein Tag!




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