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Traum und Wirklichkeit

Düsseldorf-Marathon 2009

"Noch ca. eine Minute bis zum Start. One minute to the start!" schallt die Ansage über den Startblock. Ich hole tief Luft und lasse den Atem langsam zwischen den Lippen ausströmen. Mit ihm scheint der wilde Gedankenstrudel endlich zu entweichen, welcher seit Tagen durch meinen Kopf tobt. "Klappt die Anreise? Habe ich alles eingepackt? Habe ich genug und richtig gegessen, getrunken, trainiert? Wie wird das Wetter? Wie wird es ab Kilometer 30 gehen? ..."

Jetzt, Sekunden vor dem Start, tritt der ganze Trubel für ein paar Augenblicke in den Hintergrund und ich kann meine Gedanken etwas sammeln. "Jetzt gilt es. Du bist in Form wie nie zuvor und wirst es heute schaffen. Bleib cool und halte dich unbedingt an deinen Plan!" Nach zwei gescheiterten Anläufen ist dies heute mein dritter Versuch, die Traummarke von 3 Stunden zu knacken. Beim ersten Anlauf, vor einem Jahr in Hamburg, zerplatzte der Traum bereits drei Wochen vor dem Start an einer Infektion. Beim zweiten Versuch, dem letzten Berlin-Marathon, fehlten dann rund zweieinhalb Minuten. Nicht viel, wenn man an die gesamte Strecke denkt. Ziemlich viel, wenn man das Tempo noch 12 Kilometer weiter durchhalten muss.

Back to the roots
Endlich geht es los. Sekunden nach dem Startschuss betrete ich die Strecke, auf welcher vor genau 5 Jahren und einem Tag meine Marathonlaufbahn begann. Auch damals hatte ich einen großen Traum, den Traum einmal einen Marathon zu laufen.

Ich habe mich hinter dem 3-Stunden-Pacemaker einsortiert, um mich von ihm in das Rennen bringen zu lassen. Kilometer 1 passieren wir nach 4:22. Etwas langsamer als der Sollschnitt von 4:16, aber für den Einstieg bestimmt kein Fehler. Mein letzter Start in Düsseldorf war mir hoffentlich eine Lehre. Damals musste ich für mein überzogenes Anfangstempo bitter bezahlen. Auch der zweite Kilometer ist mit 4:18 etwas zu langsam, dafür fühlt sich das Tempo aber auch noch sehr zivilisiert an.

Nach meinem gescheiterten 3-Stunden-Versuch in Berlin hatte ich mich ernsthaft gefragt, ob ich nicht einfach meine Grenzen erreicht habe. Heute bin ich aber sehr zuversichtlich. Ursache für diesen Optimismus ist das Training der letzten Monate in der Langstrecklergruppe der LG Neckar-Enz, deren starke Läuferinnen und Läufer mir bereits bei mehreren Veranstaltungen in der Umgebung aufgefallen waren. "Das schaust du dir mal an", dachte ich vor dem ersten Treffen, "und vielleicht trabst du auch gleich ein wenig mit denen mit". Eine halbe Stunde später hing ich an den Hacken einer ganzen Gruppe 2:50-Marathonis und trommelte die erste, im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende, 3000m-Wiederholung in die Tartanbahn des Bietigheimer Ellentalstadions. Der Lohn war eine schnell ansteigende Formkurve und vor ein paar Wochen eine neue Halbmarathon-Bestzeit.

Der Pacer macht nun Ernst und beschleunigt knapp über 3-Stunden-Speed. Das war's schon mit dem Wohlfühltempo; in den Beinen fühlt sich das plötzlich sehr anstrengend an und mein Puls steigt ruckzuck auf Halbmarathon-Niveau. Panik! Vor Minuten noch voll Selbstvertrauen, bohren nun bange Fragen: Was ist nur mit mir los? Wo ist die Form? Das müsste sich doch noch relativ locker anfühlen! Ich werde es wieder nicht schaffen und wie in Berlin ganz knapp scheitern.

Mein Abstand zum Pacer vergrößert sich langsam, während ich mich haarscharf an der Marschtabelle entlang hangele. Eine Liste mit Zwischenzeiten für jeden der 5km-Abschnitte habe ich auf mein Uhrenarmband geklebt. Auf die Sekunde genau treffe ich die 5 Kilometer mit 21:20.

Drei, Drei, Drei, ...
Wenn der Spruch "Aller guten Dinge sind drei" auch nur ein bisschen stimmen sollte, dürfte heute eigentlich nichts schief gehen. Es ist mein dritter Angriff auf die 3 Stunden. Mein dritter Start in Düsseldorf. Und heute ist noch dazu der 3. Mai. Ich weiß, ich weiß - der Aberglaube nützt nichts. Aber schaden wird er auch nicht...

Die kürzeste Theke der Welt
Zu meiner Überraschung konnte man am Vortag nur für 4 der 8 offiziellen Verpflegungspunkte Flaschen mit Eigenverpflegung abgeben. Offensichtlich wurde nicht nur ich überrascht, an der Abgabestelle suchte eine ganze Gruppe von Läufern nach den Kisten für die übrigen Flaschen. Nur alle 10 Kilometer Verpflegung? Ist Schmalhans hier Küchenmeister? Bisher hatte ich Düsseldorf nun wirklich nicht mit einem spärlichen Getränkeangebot in Verbindung gebracht.

Kurz darauf höre ich den Ruf "Joachim!". An der Seite steht Gillian; ich winke und sie schießt ein Foto. Sehr überzeugt sehe ich sicherlich noch nicht aus.

Kasseler mit Laut
Jetzt geht es zum ersten Mal über die Oberkasseler Brücke. Seit die Strecke zweimal über diese Brücke führt, scheint die Stimmung nicht mehr ganz so phänomenal zu sein, wie bei meinem ersten Start, aber es ist immer noch toll. Die Zuschauer veranstalten ein Riesenspektakel. Überhaupt ist die Stimmung überall am Straßenrand immer wieder fantastisch. Ich glaube, sobald der Rheinländer irgendwo eine abgesperrte Straße entdeckt, auf welcher sich ein wie auch immer gekleideter Zug von Menschen bewegt, versammelt er sich in Massen am Straßenrand, feiert und sorgt für Stimmung. Das Ganze wirkt so unaufgesetzt und natürlich, dass man einfach mitgerissen wird.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Brücke müsste schon bald die Spitze des Feldes zurückkommen, aber noch ist die Strecke leer. So schnell sind weder die afrikanischen Wunderläufer auf der Jagd nach dem Streckenrekord noch die deutsche Marathonelite um Falk "Mein-angehender-Vater-hatte-nicht-den-Mut" Cierpinski.

Wir stürmen die Brücke hinunter zu Kilometer 10, ich liege eine lächerliche Sekunde vor der Marschtabelle. Hier wollte ich ein wenig beschleunigen, aber viel ist nicht drin. Immerhin kann ich langsam zur Gruppe um den 3:00-Pacer aufschließen. Das Laufen in der Gruppe entspannt ein wenig, da ich mich nicht mehr ständig um das Tempo kümmern muss. Mein Vordermann zeigt mir Hindernisse wie Verkehrsinseln an, die Zusammenarbeit läuft wirklich gut. Für drei Stunden sind wir eine Schicksalsgemeinschaft.

Rennrudler
Am nächsten Getränkestand zeigt sich der Nachteil des Laufens in der Gruppe. Jeden Becher, den ich anvisiert habe, schnappt mir ein Vordermann vor der Nase weg. Die Helfer stehen so dicht vor dem Stand, dass ich mir keinen Becher vom Tisch greifen kann. Mist! Am Ende der Tischreihe kann ich lediglich meinen Schwamm in eine Wasserwanne tauchen. Also "Schwamm drüber" und bis zur nächsten Erfrischungsstelle warten, die gibt es hier absolut vorbildlich im Abstand von 2,5 Kilometern. Also noch 10 Minuten bis zum nächsten Versuch.

In der Zwischenzeit mache ich mich daran, die 3-Stunden-Gruppe zu überholen. Das stärkt mein Ego und gibt Zuversicht. Das muss heute doch klappen. Besonders schnell fühle ich mich nicht, aber ich bin noch voll dabei. Am nächsten Erfrischungspunkt habe ich freie Sicht und freie Auswahl.

Zwei farbige Elite-Pacemaker stehen neben der Strecke. Na, die sind aber nicht sehr weit gekommen. Wenig später rauschen die beiden wieder an uns vorbei. "Die laufen jetzt noch locker aus", meint mein Nebenmann.

Hinter mir donnert das "Klapp, Klapp, Klapp" von Schritten auf dem Asphalt bedrohlich näher. Die Drei-Stunden-Gruppe hetzt hinter mir her. Der Gedanke, von denen jetzt überholt zu werden, bringt mich beinahe um den Verstand. Nicht wegen der paar verlorenen Plätze, die sind mir so etwas von egal. Aber wenn die mich jetzt abhängen? Schneller laufen geht nicht, das würde mir endgültig das Genick brechen. Ich habe noch nicht einmal die Hälfte der Strecke geschafft!

Wenig später ist mein Widerstand gebrochen. Innerhalb von Sekunden brettert die ganze Truppe einschließlich Pacer an mir vorbei. Ihre Geschwindigkeit erscheint mir illusorisch und ich mache nicht einmal den Versuch, das Tempo mitzugehen. Das war's, jetzt ist es aus und vorbei, der Anfang vom Ende. Aus der Traum.

Die Halbmarathonmarke passiere ich in 1:29:23. Also 37 Sekunden Reserve. Was macht das auf den verbleibenden 21 Kilometern? Das Rechnen fällt mir in meinem Zustand extrem schwer, aber nach und nach sickert die Erkenntnis durch, dass ich nicht einmal zwei Sekunden pro Kilometer langsamer werden darf. Weia ... Immerhin bleiben die Luftballons des 3:00-Pacers in Sichtweite und der Abstand hat sich stabilisiert. "Jetzt reiß dich zusammen und kämpfe! Die Traumzeit gibt es nicht im Spaziergang!".

Ein kleiner Junge streckt mir die Hand entgegen. Komm, wenigstens einmal abklatschen. Ich muss jetzt endlich die drei Stunden knacken und dann unbedingt einmal einen Marathon ohne Zeitziel laufen. Ich will wieder einmal Luft, Zeit und Spaß mit den Zuschauern haben.

Nach 30 Kilometern habe ich eine dreiviertel Minute Zeitpolster. Gequältes Kopfrechnen. Großzügig geschätzt kann ich mir pro Kilometer rund 4 Sekunden mehr genehmigen. Nicht wirklich beruhigend, jetzt, da der härteste Abschnitt des Marathons noch vor mir liegt.

Kilometer 32. Ich bin zur 3-Stunden-Gruppe aufgelaufen und kann das Tempo halten. Jetzt glaube ich wieder an den Erfolg. Die Beine laufen flüssig, während ich beim letzten Marathon an dieser Stelle bereits kräftig Tempo herausnehmen musste. Das klappt, das klappt! Wahnsinn!

Beim nächsten Ton ...
Kilometerschild 34, wieder ein Druck auf die Lap-Taste. Piep - 4:41 für den letzten Kilometer. WAS?!?! Das kann doch nicht sein! Haben wir gerade eine halbe Minute unserer kostbaren Zeitreserve verspielt? Der Pacer und die Gruppe bleiben ruhig, machen keine Anstalten, das Tempo zu verschärfen. Da kann etwas nicht gestimmt haben, aber die Verunsicherung bleibt. 3:49 und ein Kilometerschild später ist die Welt dann wieder in Ordnung, das letzte Schild stand klar an der falschen Stelle.

Das Häufchen um unseren Pacer wird zusehends überschaubarer. Erbarmungslos schlägt der Hammermann zu, reißt wieder und wieder ein Opfer aus unserer Gruppe heraus. Zerplatzte Träume. Bin ich der Nächste? Die Beine sind so müde. "Jetzt nur nicht nachlassen. Bleib dran! Sollen das ganze Training und die letzten beiden Stunden umsonst gewesen sein? Du musst jetzt durchziehen!".

Am Straßenrand wird ein Holzkohlegrill angeworfen. Rauchschwaden ziehen über die Straße, ätzen für zwei, drei Atemzüge in der Lunge. Mein Magen streikt, den letzten Verpflegungspunkt werde ich auslassen.

Noch drei Kilometer! "Du schaffst das!". Jetzt habe ich wirklich ein brauchbares Zeitpolster und bin immer noch auf Kurs. Urplötzlich nimmt der Pacer das Tempo heraus. Was ist los?!? Macht er schlapp? Zirkelt er auf 2:59:59 ins Ziel? Mir ist die Tempoverschleppung unheimlich und ich gehe vorbei. Auf keinen Fall will ich so kurz vor dem Ziel noch scheitern.

Allein, allein
Schnell gewinne ich Abstand und zum nächsten Läufer nach vorne klafft ebenfalls eine beachtliche Lücke. Ich bin allein. Aber ist auf den letzten Kilometern nicht jeder von uns allein? Allein in einem Körper, welcher verzweifelt an den letzten Energiereserven saugt, der mit 30.000 Schritten auf den Asphalt geknallt ist?

Ich muss nun wieder selbst das Tempo bestimmen. Klappt ganz gut. Ist vielleicht sogar einen Tick schneller geworden. Ein Schmerz zuckt durch den Oberschenkel. Leichtes Krampfen, eine Muskelpartie flattert. "Oh nein, nicht jetzt, so kurz vor dem Ziel!". Ich versuche, locker und flüssig zu laufen. Es geht - bis zur nächsten, engen 90-Grad-Kurve. Jetzt zieht es im anderen Schenkel. "Mach langsamer, du kannst ruhig ein paar Sekunden verlieren. Eine Gehpause und alles war umsonst!". Die letzten Kilometer der Strecke sind fürchterlich verwinkelt. Jeder Richtungs- und Tempowechsel zieht in den gemarterten Beinen und schürt meine Angst vor dem endgültigen Krampf.

Das mit dem Tempo herausnehmen klappt nicht. Ich stehe völlig unter Strom. Adrenalin brodelt durch meine Adern und spült die verbliebenen Reste Verstand hinweg. Ich stehe ganz kurz davor, mir meinen großen Traum zu erfüllen. Oder vor der ganz großen Katastrophe. Noch eineinhalb Kilometer. Knapp 4 Runden auf der Bahn. Die Gegend kommt mir zusehends vertrauter vor. Gleich muss ich am Rhein sein.

Die letzte Rechtskurve zum Rheinufer hinunter habe ich schon hundertmal genommen. Zweimal in Laufschuhen; unzählige Male in Gedanken. In meiner Vorstellung sah ich dann immer die Zieluhr mit der ersehnten Stundenziffer "2". In der Realität ist davon nichts zu erkennen, das Ziel ist noch zu weit entfernt. Ein Blick auf die Armbanduhr, noch rund zweieinhalb Minuten. Wie weit ist das nur bis zum 42km-Schild? Endlich, noch 200 Meter. Da, die Uhr. Jetzt sehe ich sie, die "2", die "2"!

Ich reiße die Arme hinauf in den Himmel, schon vor der Ziellinie bricht der Jubel heraus. Mein großer Traum, auf Tausenden Trainingskilometern geträumt, sublimiert auf den Ziffern der Uhr zur Wirklichkeit: 2:58:53!

Atemlos kralle ich die Hände in ein Absperrgitter. Jaaaaaaaaaaaaaa! Ich hab's geschafft!

Ich bin völlig aus dem Häuschen. Ein paar Zuschauer betrachten irritiert meinen Veitstanz. Ich schwebe auf Wolken, es ist ein Traum! Es ist wahr!


„A runner must run with with dreams in his heart“
Emil Zatopek



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